Warum ein Christlich Demokratische Union-Politiker Dorfkneipen in Brandenburg retten will | ABC-Z

Typische Neuigkeit auf dem Dorf: Die Kneipe macht dicht. Viele Dorfbewohner erfasst dann Wehmut. So wie sie auch Wehmut erfasst beim Gedanken daran, dass immer weniger Menschen in die Kirche gehen, immer weniger Buchläden gegen Amazon bestehen und immer weniger Kinder ohne Tiktok klarkommen. Manche kriegen ein schlechtes Gewissen. Hätte ich nicht öfter in die Kneipe gehen sollen? Aber das Bier vor dem Fernseher schmeckt doch auch.
Pech für die Wirte. In den vergangenen Jahren machte in Deutschland jede dritte Schankwirtschaft dicht. Gab es 2015 noch 31.000 von ihnen, waren es 2022 nur noch 21.000. Ist das schlimm? Was nicht mehr erfolgreich ist, hat sich oft schlicht überlebt. Zum Beispiel die Compact Disc, das Warenhaus im Stadtzentrum oder die Sitte, in Restaurants zu rauchen. Altes verschwindet, etwas Neues kommt, das für die meisten Menschen besser ist. Bei der Kneipe könnte man das auch so sehen.
Sie leidet darunter, dass die Deutschen weniger saufen. Tranken sie 2008 im Schnitt noch rund 110 Liter Bier im Jahr, waren es 2024 nur noch 88 Liter. Auch Wein, Sekt und Spirituosen wurden seltener geöffnet. Blickt man weiter in die Vergangenheit, sind die Unterschiede noch deutlicher. Und wer seltener trinkt, muss sich seltener zum Trinken treffen.
Andere Gründe fürs Kneipensterben: Die Gäste ärgert der Bierpreis, die Wirte die Bürokratie. Manche finden kein Personal mehr oder nur solches, das den Gästen mit Trägheit und schlechten Buletten den Abend verdirbt. Auch die Alltagsroutinen haben sich geändert. Wo Männer vor dreißig Jahren noch vom Büro zum Stammtisch geschlendert sind, fahren sie jetzt aus dem Homeoffice zum Kita-Elternabend. Ältere Männer skypen mit ihren Enkeln und schenken sich dabei ein kleines Glas Wein ein. Viele können gar nicht sagen, warum sie nicht mehr in die Kneipe gehen. Es ist eher so, dass ihnen anderes wichtiger geworden ist.
Politiker antworten auf so etwas gern in Politikersprache: Gesellschaft im Wandel, Transformation, die Bundesregierung setzt sich für einen starken sozialen Zusammenhalt ein. Sätze, die klingen, wie ein lauwarmes Bier schmeckt. Im Sommer folgten auch mal Taten. Die Regierung beschloss, dass vom kommenden Jahr an die Gastrosteuer auf Speisen gesenkt wird; die für Getränke allerdings nicht. Das nützt Burgerrestaurants in Berlin mehr als Stehkneipen auf dem Land.
Große Biere für alle, bitte
Die CDU Brandenburg will mehr. Sie ist aktuell in der Opposition, da lässt es sich leichter fordern. Die Landtagsfraktion verlangt ein „Zukunftspaket für Dorfkneipen in Brandenburg“. Mindestens 7,5 Millionen Euro sollen in die Gaststätten fließen. Ist das nicht rückwärtsgewandt: etwas, das sowieso im Untergang begriffen ist, mit Geld retten, das man angesichts knapper Kassen nicht hat? Das soll ein CDU-Mann beantworten, der sich besonders dafür engagiert. Und wo ginge das besser als in einer Kneipe, die vielleicht bald stirbt?
Ein warmer Herbstabend in Brandenburg, im Auto Richtung Neuhausen/Spree, Ortsteil Bagenz, ganz im Süden, fast schon Sachsen. Eine gepflasterte Straße führt zum „Dorfkrug“ hin. Davor warten schon die Wirtin, der CDU-Politiker und ein Fraktionssprecher. Es ist noch warm genug, um draußen zu sitzen, auf Gartenstühlen, vor Geranien. Große Biere für alle, bitte.
Eigentlich könnte der CDU-Mann jetzt schon loslegen, Julian Brüning, 31, seit sechs Jahren Landtagsabgeordneter, nebenher Jurastudent. Aber dann bringt die Wirtin die Biere und setzt sich dazu. Also, folgendermaßen: Sie, Silke Neumann, stammt aus der Gegend. 1994 kaufte sie den „Dorfkrug“, zusammen mit ihrem Mann. Der war in der DDR Staatswissenschaftler gewesen, musste nach der Wende umschulen, wurde Koch. Da gab es acht Gaststätten im Ort. Jetzt sind es nur noch zwei. Woran liegt’s? „Geld“, sagt die Wirtin, also: daran, dass die Gäste knapp bei Kasse sind. „Du merkst, wenn Monatsmitte ist. Dann ist kein Geld mehr da.“ Lange schon öffnet sie nur noch Donnerstag bis Sonntag. Kürzlich hatte sie eine Kabarettveranstaltung organisiert – 80 Gäste, ausverkauftes Haus. Eine andere war ein Flop, „zweite Monatshälfte“.
Der Mann der Wirtin erscheint in der Tür. Er ruft seine Frau hinein. Bald kehrt sie zurück. Wollten Gäste drinnen etwas? „Ist doch keiner da“, sagt die Wirtin, als wäre das eigentlich klar. Jemand war am Telefon und hatte eine Frage zu den Pensionszimmern. Die vermietet sie auch, Einzelzimmer 40 Euro. Hin und wieder kommen Fahrradtouristen. Mitte der Neunziger lohnte die Pension sich richtig. Da wurde in der „Schwarzen Pumpe“, nicht weit von hier, ein neues Kraftwerk gebaut. Jede Menge Arbeiter brauchten Betten. Auch jetzt kommen noch manchmal Monteure. Ein Kranführer von einer Baustelle in Cottbus schläft jede Woche eine Nacht hier, ein Vierteljahr lang. Immerhin.
Ende Juni dachte die Wirtin: Wenn das so weitergeht, machen wir zum Jahresende dicht. Das erste halbe Jahr sei grottig gelaufen. Kaum Gäste. „Viele Leute sagen: Du weißt nicht, was kommt. Lieber mal das Geld zusammenhalten.“ Von Juli an sei es dann besser geworden, warum auch immer. Aus der Erzählung der Wirtin klingt Ratlosigkeit, aber auch Zähigkeit. Sie steuert die Kneipe wie ein winziges Boot auf einem Meer, das mal vom Sturm zerwühlt wird, dann wieder spiegelglatt in der Sonne glänzt.
Die Kartenspieler sind alle weggestorben
Die Wirtin sagt, ihr Job sei wie Krankenschwester. „Den machste gern oder gar nicht.“ Jeden Sonntag kommt eine Vierergruppe zum Mittagessen. Alle über 80, eine ist gerade 88 geworden, ein anderer 92. Die bekommen die ganze Woche Essen auf Rädern, am Sonntag aber wollen sie sich was gönnen. Ansonsten gibt es nur noch wenige Stammtische. Ein Frauenstammtisch einmal im Monat, „Rentnerfrauen, die noch keine Rentner sein wollen“, sagt die Wirtin, es klingt fast liebevoll. Die Kartenspieler, Doppelkopf, Skat, die nach der Wende noch gerne kamen, sind alle weggestorben.
Die Wirtin kommt noch mal auf das Thema Geld. Viele Gäste erklären damit, dass sie zu Hause bleiben. „Du kannst nicht jede Woche 20 Euro ausgeben nur für vier Bier“, zitiert sie und zuckt mit den Schultern. Wie eine Krankenschwester, wenn ein Patient sich auf eigenes Risiko entlässt. Schwierig, aber so ist der Mensch.

Haben die Leute das Geld wirklich nicht? In den Hofeinfahrten stehen Autos, keine Schrottkarren, dahinter Einfamilienhäuser, in manchen Gärten große Trampoline, schöne Gartenmöbel. Die Menschen sind doch nicht in Not, etwa arbeitslos? „Arbeitslos auf dem Dorf gibt’s fast nicht“, sagt nun der CDU-Politiker Brüning. Fast alle hätten einen Job oder seien Rentner. Die Wirtin sucht eine neue Erklärung: Die Jüngeren blieben deshalb weg, weil sie so viele andere Sachen zahlen müssten, ob das Sportvereine seien oder Sachen für die Kinder. Brüning berichtet, er sei als junger Mann auch kaum in die Kneipe gegangen. „Wenn wir Fußball gespielt haben, sind wir anschließend mit einem Kasten Bier in der Kabine gesessen.“ Es gab auch einen Jugendclub, da kriegte man das Bier billiger. Wieso will er dann die Kneipen retten?
Weil dort sehr unterschiedliche Leute überhaupt noch miteinander reden. Zum Beispiel CDU-Politiker und Bürger, die der CDU nicht mehr viel zutrauen. Brüning hat im „Dorfkrug“ vergangenes Jahr einen Gesprächsabend veranstaltet, „Dorfliebe-Dialog“ hieß der, das Wort sollte nicht nach Politik klingen, das Logo seiner Partei nicht groß sichtbar sein. Es kamen 45 Leute, das ist viel auf dem Land. Er geht auch in Spremberg zum Unternehmerstammtisch, gegründet von einem CDU-Abgeordneten. „Da bekomme ich von den Leuten rückgekoppelt, was sind so die Themen.“
Natürlich bekommt er auch Briefe, E-Mails, kennt Umfragen, Zahlen. Aber an einem Tisch sitzen, in einem Raum miteinander reden, ist noch mal was anderes. Man kann lächeln, Kontra geben, auf ein Bier einladen, auf die Schulter klopfen. Das ist nicht nichts. Brüning glaubt, dass so was in den vergangenen Jahren eingeschlafen sei. Auch in seiner Partei. „Wir haben uns nicht mehr getraut, rauszugehen und den Leuten zu sagen: Wir sind die Alternative zur Alternative.“
Der CDU-Politiker hat selbst einen Stammtisch-Hintergrund
Brüning kam selbst am Stammtisch zur Politik. 2013 war das, da war er 18. Im Dorf gab es ein Problem mit dem Sportlerheim, der Vater war dort Trainer und ärgerte sich, dass es nicht voranging. Der Sohn beschloss, sich mal anzugucken, wie Kommunalpolitik funktioniert. Vielleicht könnte er was erreichen. Seine erste Wahl fiel auf die SPD. Er ging zum Stammtisch: „Aber die waren alle siebzig aufwärts.“ Dann ging er zum Stammtisch der CDU. Das passte.
Jetzt, zwölf Jahre später, hat er viel über Politik gelernt. Er versteht, warum die Leute schimpfen. Er zeigt rüber zu der gepflasterten Straße, auf der die Autos am „Dorfkrug“ vorbeibrettern. Das sei eine Landesstraße, erklärt Brüning, sehe aber aus wie eine Buckelpiste. Straßen, für die das Land zuständig sei, seien in Brandenburg eigentlich ausgebaut. „Wer uns schon alles versprochen hat, dass diese Straße gemacht wird!“ Am meisten störe ihn das „Behörden-Mikado“. Das Land wolle die Straße an den Landkreis abgeben, damit der sie saniere. Der Landkreis bestehe aber auf der Sanierung, bevor er die Straße übernehme. Und dann sitzt er, Brüning, in der Kneipe und bekommt von den Bürgern den Auftrag, sich um die Straße zu kümmern, und kann nichts machen. „Dann sagen die Leute: Wofür haben wir ’nen Landtagsabgeordneten?“ Der Vorteil: Immerhin sitzen sie da noch und reden mit ihm, statt sich gleich ganz abzuwenden.
Der Blick fürs Kleine sei abhandengekommen, resümiert Brüning. Für die Dinge, die keine Weltkrisen sind, sondern Alltagssorgen. Aber warum ist der abhandenkommen? Große Frage – wie soll man die bei einem Bier abschließend beantworten? Brüning beobachtet jedenfalls, dass Kneipen Orte sind, an denen es um die Alltagssorgen der Menschen geht. Über sie kann man dort besser reden als überall sonst. Beim Bürgerdialog im „Dorfkrug“ sei es nur um so was gegangen, nicht um Krieg und Frieden, Trump oder Klimawandel.
Immer wieder wird das Gespräch grundsätzlich. Es ist, als gehe es um Deutschland, wenn es um die Kneipe geht. Oder zumindest um das Deutschland jenseits der Städte. Der Sohn der Wirtin lebt in Gotha, Thüringen. Er arbeitet dort als Studienrat und „will gar nicht zurück“, wie die Mutter mit jenem Verständnis berichtet, das sie auch für ihre Gäste aufbringt. Brüning erzählt von seiner Cousine. Die wohnt in Leverkusen. Von da kann sie schnell in Köln oder Düsseldorf sein. Wenn man als Jugendlicher einen Ausbildungsplatz in Cottbus oder Spremberg bekommt, muss man oft hinziehen, auch wenn man vielleicht nur zehn Kilometer entfernt wohnt, weil man morgens früh mit dem Bus nicht zur Arbeit kommt.
Eine neue Runde Bier
Beginnt jetzt die große Klage? Nein, denn in der Kneipe hilft man einander auch aus dunklen Stimmungen heraus. Brüning und die Wirtin kommen jetzt darauf, dass bei ihnen auch manches vorangehe. Zum Beispiel bekomme der Ort bald Photovoltaikanlagen. Die Wirtin, wieder im Bestreben, Verständnis auch für deren Gegner zu haben: „Ist auch nicht jeder froh drüber.“ Brüning entgegnet: „Unser Blick ging früher auf den Tagebau, das war auch nicht schöner.“ Die Wirtin lächelt zustimmend.
Sie holt eine neue Runde Bier. Immer noch kaum Gäste. Nur am Nebentisch haben sich eben zwei Männer niedergelassen, kurze Hosen, braun gebrannt, um die fünfzig. Sie sprechen starken sächsischen Dialekt. In den Pausen scheinen sie zu lauschen – das Gespräch an Brünings Tisch interessiert sie. Sie stammen aus dem Erzgebirge, wie einer von ihnen bei nächstbester Gelegenheit herüberruft, Hilmersdorf. Also Fans des Fußballclubs Erzgebirge Aue? „Nein, schon seit DDR-Zeiten Dynamo“, ruft der Gesprächigere zurück. Also Dresden-Fans, freut sich Brüning, so wie er. Er kommt gleich auf Kultspieler zu sprechen, Ignjac Krešić, Thomas Neubert. Die Erzgebirgler nicken, offenbar angetan: „Jetzt tun wir mal Völkerverständigung machen“, kommentiert der eine den Austausch zwischen Brandenburgern und Sachsen.
Was führt die Sachsen hierher? Arbeit, auf einer Baustelle. Aus ihrer Sicht kein ergiebiges Thema. Eher interessiert sie, was am Brüning-Tisch diskutiert wird. Man habe doch mitbekommen, dass es um Politik gehe. Brüning sagt, es gehe um das Thema Kneipensterben. Er sei hier als Politiker. Was für ein Politiker, fragen die Erzgebirgler. „CDU, im Landtag“. Da entfährt es dem Erzgebirgler: „Verrückter Hund!“ Er habe nie erwartet, hier einen echten Abgeordneten zu treffen. Die kurvten doch bloß in Limousinen durchs Land, mieden die normalen Leute. Er scheint ehrlich verblüfft.

Nun hat der Mann eine Frage, die den Anschein macht, dass vor allem er selbst sie gern beantworten will. „Was haltet ihr von der Demokratie?“ Schon recht viel, so die Antwort des Brüning-Tischs. „Ich ja nichts“, kontert der Erzgebirgler. Er sei für die Monarchie. Und schickt auch gleich ein aus seiner Sicht schlagendes Argument hinterher: „Habt ihr schon mal einen Bienenstock gesehen, in dem es Parteien gibt?“ Hier könnte das Gespräch zu Ende sein. Was sollen sich ein demokratisch gewählter Politiker und ein Reichsbürger zu sagen haben, erst recht wenn das Argument ist, dass Bienen nicht CDU wählen? Doch Brüning und der Sprecher fragen ruhig nach: Wer denn seiner Meinung nach König werden solle?
„Na, dieser eine da am Tegernsee“, überlegt der Erzgebirgler. „Der wäre in der Erbfolge dran.“ An den Namen erinnert er sich gerade nicht. „Markus Söder“, scherzt der Fraktionssprecher, aber so leise, dass der Erzgebirgler es nicht hört. Meint der Mann den Gastronomen vom Tegernsee aus der Reichsbürger-Terrorgruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß? Jetzt spricht er aber schon weiter, von einer „BRD GmbH“ mit „25 Bundesstaaten“. Brüning antwortet ihm, da sei er falsch informiert. So geht es ein paar Minuten hin und her. Irgendwann entsteht eine Pause. Der Reichsbürger scheint darüber beinahe enttäuscht, er schaut verlegen drein und sagt: „Aber wir ha’m uns doch schön unterhalten.“
Jedenfalls überhaupt unterhalten, ohne Feindseligkeit. Das hat ihn offenbar beeindruckt. Schon nach wenigen Minuten ruft er herüber, man könne doch noch weiter über Politik reden. Doch sein Begleiter ist dagegen. Nee, nee, es reiche jetzt mal.
Könnte so etwas auch auf der Plattform X stattfinden oder bei einem Auftritt eines Politikers auf einem Marktplatz? Wohl kaum. Da gibt es Publikum, das alle dazu antreibt, den Streit zu gewinnen. Sich überraschen lassen geht besser am Kneipentisch. Andere überraschen auch.
Die Wirtin fragt nun, ob die Runde am Brüning-Tisch etwas essen wolle. Sonst sei bald Küchenschluss. Ja, auf der Karte steht doch Schnitzel mit Pfifferlingen. Das, bitte! Die Wirtin eilt in die Küche. Doch noch ein ganz guter Abend.





















