Kultur

Vincent Keymer besiegt Magnus Carlsen bei Freestyle-Turnier | ABC-Z

Läufer fesselt Bauer. Das hatte Vincent Keymer übersehen. Unterm Tisch wippen seine Füße noch einen Takt schneller als vorher. Der Bauer ist nicht zu halten. Auf einmal verwaltet er ein Endspiel mit einem Bauern weniger. Und das gegen Magnus Carlsen, Endspielgott ist sein zweiter Vorname.

Würde Deutschlands Spitzenspieler wieder sein Opfer? Würde er die Niederlage vom Vortag wettmachen und sich anschließend im Stechen durchsetzen? Wie oft schon stand Keymer gegen den Weltranglistenersten gut und am Ende doch als Verlierer, als Carlsens Kunde, da? Bahnt sich etwa ein Déjà-vu an?

Keymer denkt nicht an Baku

Die deutschen Schachkenner denken natürlich gleich an Baku, August 2023, vierte Runde des Weltcups. Damals gewann Keymer erstmals eine Partie mit langer Bedenkzeit gegen Carlsen. Um weiter- und damit der Qualifikation fürs WM-Kandidatenturnier ganz nahe zu kommen, brauchte er nur das Rückspiel nicht zu verlieren. Carlsen gab ihm eine Chance, eine gewonnene Stellung zu erhalten. Doch Keymer sah die Kombination nicht, wurde langsam zusammengeschoben und schied im Stechen aus.

Keymer denkt nicht an Baku. Jedenfalls sagt er das hinterher. Man darf es ihm glauben, denn auf dem Brett passiert so viel. Beide haben fast ihre gesamte Bedenkzeit in der Eröffnungsphase und im frühen Mittelspiel aufgebraucht und sind auf die dreißig Sekunden angewiesen, die nach jedem Zug dazukommen.

Als Carlsen mit seinem Läufer seinen Mehrbauern deckt, statt zuzulassen, dass er gegen einen anderen Bauern getauscht wird, blickt ihm Keymer mehrmals ins Gesicht. Vielleicht sucht er nach Hinweisen, wie der Norweger die Lage jetzt einschätzt. Vielleicht will er auch sagen: Freundchen, das gewinnst du nicht mehr!

Außerhalb des Bretts verstehen sie sich gut. Ihre Lebensgefährtinnen werden in Weissenhaus oft zusammen gesehen. Schachlich hat Carlsen nicht die höchste Meinung von Keymer. Gegen ihn legt er seine Partien oft riskanter an als etwa gegen die jungen Inder Gukesh und Praggnanandhaa, die ein breiteres Repertoire haben als der Deutsche, der zwar ein ausgezeichnetes Stellungsgefühl besitzt, sich aber öfter verrechnet.

Spielort ist eine aufgemotzte Scheune

Dieses Mal biegt Carlsen ihn nicht um. Eine Viertelstunde nach seinem zu passiven Läuferzug ist das Remis perfekt. Keymer hat das Endspiel des ersten Freestyle-Grand-Slam-Turniers erreicht. 140.000 amerikanische Dollar (rund 135.000 Euro) hat er sicher, mehr, als er in seinem bisher besten Jahr als Profi verdient hat.

Er kann sein Preisgeld auf 200.000 Dollar (rund 190.000 Euro) schrauben, wenn er an diesem Freitag auch Fabiano Caruana schlägt, seinen amerikanischen Teamkameraden beim Schachbundesligaklub OSG Baden-Baden, der sich ein paar Meter weiter gegen Dschawochir Sindarow schwertut und erst am späten Abend nach vier Stichpartien mit kürzerer Bedenkzeit gegen den 19 Jahre jungen Usbeken durchsetzt.

Neben der mit allen Schikanen aufgemotzten Scheune, in der gespielt wird, ist eine Zeile mit Studios. Die bekanntesten Influencer des Schachs, von Levy Rozman über die Botez-Schwestern bis zu Anna Cramling, wurden in das Luxushotel an der holsteinischen Küste eingeladen, um vom und für den ersten Grand Slam zu berichten.

Im PR-Wettstreit mit dem Internationalen Schachverband FIDE, der zwar nur klassisches Schach organisiert, aber auch die Kontrolle über das auf Bobby Fischer zurückgehende Freestyle Chess nicht ganz abtreten will, kommt es nun auf Reichweite an. Weissenhaus will das Wimbledon des neuen Schachs werden. Durch Glasscheiben kann man zusehen, wie Keymer die Runde macht.

Das Gefühl eines Weltmeisters

Während er seine Interviews absolviert, gesellt sich Jan Henric Buettner zu den im von der Ostsee herüberwehenden Eiswind wartenden Reportern. Der Gastgeber und Initiator der Serie ist auch Sponsor des deutschen Jungprofis. Gerade hat er die „Bild“-Zeitung angerufen und dabei wahrscheinlich den Satz gesagt, den er jetzt wiederholt: „Das ist der Boris-Becker-Moment von Vincent Keymer!“ Mit dem Finaleinzug habe sich Keymer für das folgende Turnier im April in Paris qualifiziert, erklärt Buettner. Damit steigen auch seine Aussichten, beim Grand-Slam-Finale im Dezember in Kapstadt dabei zu sein.

Bis dahin spreche er nicht von einer Weltmeisterschaft, weil die FIDE seinen Teilnehmern gedroht hat, sie von der klassischen WM auszusperren. So ist es in einer Videokonferenz zwischen den anwesenden und zugeschalteten Profis besprochen und beschlossen worden. Aber sollte bis dahin geklärt sein, dass die FIDE kein Monopol auf Schachweltmeisterschaften jeglicher Art hat, will Buettner das Etikett beim Finale in Südafrika hervorholen.

Vielleicht liegt Keymer die Freestyle-Variante mehr als das klassische Schach mit seinen ausanalysierten Zugfolgen. Mit Konkurrenten, die als Kinder Profi wurden und Varianten paukten, während er aufs Gymnasium ging. Wenn er so weitermacht wie gegen Carlsen, oder wie im Viertelfinale gegen Alireza Firouzja, und den Grand Slam gewinnt, kann er sich im Freestyle jedenfalls als Weltmeister fühlen. Da kann die FIDE klagen, bis sie schwarz wird.

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"