Heinrich August Winklers Legendenbildung beim Asylrecht | ABC-Z

Im „Spiegel“ dieser Woche steht ein „Essay“ von Heinrich August Winkler mit der Überschrift „Deutsche Asyllegende“. Der Text enthält, was bei Essays ebenso ungewöhnlich ist wie im Nachrichtenmagazin, einen Literaturverweis, einen Hinweis auf aktuelle, unabgeschlossene Forschung. Im Ausschuss für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates lautete der Vorschlag für die Bestimmung, die als Artikel 16 ins Grundgesetz aufgenommen wurde: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts.“ Die völkerrechtliche Rahmung des Asylrechts wurde laut Winkler im Zuge der Redaktionsarbeit gestrichen, weil man eine Privilegierung von Ausländern gegenüber Deutschen habe vermeiden wollen – „wie der Historiker Michael Mayer unlängst nachgewiesen hat“.
Mayer, der mit einem Vergleich der „Judenpolitik“ in Hitlerdeutschland und Vichy promoviert wurde und als wissenschaftlicher Assistent für Zeitgeschichte an der Akademie für politische Bildung in Tutzing beschäftigt ist, arbeitet an einer Habilitationsschrift zur Genese des Asylartikels. Erste Ergebnisse veröffentlichte er im Mai 2024 in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Winklers Empfehlung des jungen Kollegen dokumentiert, dass der Sechsundachtzigjährige in der Lage ist, sich korrigieren zu lassen.
In der „Zeit“ trat Mayer der „gängigen Einschätzung“ entgegen, dass der Parlamentarische Rat „etwas völlig Neues geschaffen“ habe – und er belegte die überkommene Ansicht mit dem Wort vom „Sonderweg“, das Winkler „unlängst“ genutzt habe. Schon 2016, auf dem Höhepunkt des Streits um die Flüchtlingspolitik der Merkel-Regierung, hatte Winkler ebenfalls in der „Zeit“ den Fortfall des Verweises auf das Völkerrecht im Verfassungstext mit diesem Schlüsselbegriff des bundesdeutschen Geschichtsbewusstseins gedeutet: „Damit schlug die Bundesrepublik Deutschland einen Weg ein, der sich von dem der anderen westlichen Demokratien deutlich unterschied, im Wortsinn also ein Sonderweg war.“
Mayer korrigierte Winklers Unfalltheorie
Die Abkehr vom deutschen Bewusstsein, sich vom liberalen Westen zu unterscheiden, soll die historische Leistung der Bundesrepublik gewesen sein gemäß einer von linksliberalen Historikern verbreiteten Lehre, deren Monument Winklers zweibändiges Werk „Der lange Weg nach Westen“ ist. Der polemische Wert des fachwissenschaftlich längst zu den Akten gelegten Sonderwegbegriffs hatte sich vom ursprünglichen Inhalt abgelöst: In Winklers Intervention von 2016 sollte er nun gerade eine übertriebene Hinwendung Deutschlands zum Universalismus bezeichnen.
Diese Wende soll indes 1949 gar nicht beabsichtigt gewesen sein. Als eine Art Redaktionsbetriebsunfall stellte Winkler am 24. August 2023 in der F.A.Z. die Streichung des Völkerrechtsbezugs aus dem Asylartikel hin. Man habe die Beschränkung auf die Garantien des Völkerrechts für selbstverständlich gehalten und so unfreiwillig die „Begründung eines von den Verfassungen und der Staatspraxis der anderen westlichen Demokratien abweichenden subjektiven individuellen Grundrechts auf Asyl“ geliefert, das eine „deutsche Besonderheit“ sei. Mayer korrigierte diese Unfalltheorie, indem er an den weithin vergessenen Umstand erinnerte, dass es Carlo Schmid und dessen Mitautoren 1948/49 auch und vor allem um die Aufnahme von deutschen Flüchtlingen aus der sowjetischen Zone ging.
Klaus Ferdinand Gärditz, der im Grundgesetzkommentar von Dürig, Herzog und Scholz den (heutigen) Artikel 16a bearbeitet, machte auf der F.A.Z.-Seite „Geisteswissenschaften“ am 29. August 2023 auf einige rechtshistorische Irrtümer in Winklers Geschichte vom dysfunktionalen Asylrecht aufmerksam, die nun im legendenkritischen Versuch im „Spiegel“ wiederkehren.
Die Menschenrechtserklärung war kein Völkerrecht
Winkler führt im „Spiegel“ aus, das allgemeine Völkerrecht habe kein subjektives individuelles Recht auf Asyl begründet, das man gerichtlich hätte einklagen können. Tatsächlich gab es 1948/49 überhaupt kein auf Asyl bezogenes allgemeines Völkerrecht. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, deren Genese im Parlamentarischen Rat nur verzögert wahrgenommen wurde, war kein Völkerrecht, sondern eine unverbindliche politische Resolution. Debatten, ob hieraus Völkergewohnheitsrecht entstanden sei oder nicht, gab es erst Dekaden später. Die UN-Menschenrechtserklärung von 1948 enthielt zudem in ihrem Artikel 14 nur ein Recht, Asyl anzunehmen, wenn es angeboten wurde. Damit wurde damals lediglich klargestellt, dass das Anbieten von Asyl für Verfolgte keine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates ist (was vor dem Zweiten Weltkrieg vereinzelt behauptet worden war).
Wie Gärditz in seiner Kommentierung erläutert, debattierte der Parlamentarische Rat also kein Gegenmodell zu einem Individualrecht, sondern ein deutsches Novum, für das es weder nationale noch internationale Vorbilder gab. Dass man sich, wie Mayer dokumentiert, auch um die eigenen Landsleute kümmern musste, war ebenfalls etwas Neues. Mit dem abwertenden Etikett vom „Sonderweg“ sollte man diese Regelung nur bezeichnen, wenn man davon überzeugt ist, dass der damit eingeschlagene Weg für niemanden Vorbild sein konnte, sondern eine Sackgasse war. Da sich der Parlamentarische Rat nicht an Bestimmungen des Völkerrechts orientieren konnte, wäre der von Winkler im Nachhinein befürwortete Formulierungsvorschlag „nach allgemeinem Völkerrecht“ eine Wette auf eine unbekannte Zukunft gewesen.
Was war 1948 mit dem Vorschlag gemeint? Seit dem neunzehnten Jahrhundert enthielten zwischenstaatliche Auslieferungsverträge durchweg Klauseln, politisch Verfolgte nicht ausliefern zu müssen. Man meinte insoweit, dass man völkervertragsrechtlich auf der sicheren Seite sei, diesen Begriff zu übernehmen. Mit der Frage eines Individualrechts auf Asyl hatte das nichts zu tun.
Asyl für Faschisten?
Dass man durchaus davon ausging, dass ein Individualrecht bestehen könne, verdeutlichen in den Augen von Gärditz die Kerndiskussionen im Parlamentarischen Rat. Diese kreisten um die Frage der Asylunwürdigkeit. Man stritt darüber, ob nicht Qualifikationen nötig seien, warum jemand eigentlich verfolgt werde. So bestand die Sorge, künftig italienischen Faschisten Asyl bieten zu müssen. Bedenken hatte zum Beispiel der Abgeordnete Heinrich von Brentano (CDU), der spätere Bundesaußenminister.
Der als Sachverständiger (und stellvertretender Abgeordneter) beteiligte berühmte Bonner Staatsrechtslehrer Richard Thoma äußerte, gegen ein unbeschränktes Grundrecht spreche „das Bedenken, dass danach auch solchen Ausländern Asyl gewährt werden müsste, welche wegen kommunistischer oder faschistischer Wühlereien gegen eine befreundete Demokratie verfolgt werden“. Solche Vorbehalte wurde jedoch als mit der Idee des Asylgrundrechts unvereinbar erachtet. Es setzte sich die Auffassung von der „Generosität“ durch, die Carlo Schmid (SPD) anmahnte: „Wenn man generös sein wolle, müsse man riskieren, sich gegebenenfalls in der Person geirrt zu haben.“ Winkler findet hingegen mit seinen abwegigen, von ihm dem Forschungsstand leider nur punktuell angepassten Thesen seit 2016 deshalb so viel Resonanz in der politischen Öffentlichkeit, weil sich die stillschweigende Prämisse durchgesetzt hat, dass man beim Asyl nicht generös sein dürfe.
In der Debatte des Parlamentarischen Rates, wie Gärditz sie rekonstruiert, wurde durchweg vorausgesetzt, dass man verpflichtet sein könne, den „Falschen“ Asyl zu gewähren. Streitig war nur, ob man das einschränken solle. Diese Frage stellt sich aber nur, wenn einzelne ein Recht auf Asyl haben; bei einer lediglich allgemeinen objektiven Verpflichtung nach Maßgabe des Gesetzes hätte man schlicht eine Asylunwürdigkeit bei bestimmten Ausschlussgründen regeln können.
Zeitgeschichte der Wünschbarkeiten
Wenn Winkler im „Spiegel“ des weiteren behauptet, dass sich eine „Legende vom subjektiven individuellen Recht auf Asyl“ unter dem Grundgesetz durchgesetzt habe, weil sie „dem bundesdeutschen Kollektiv-Ego schmeichelte: dem Gefühl, aus der Unrechtserfahrung der Jahre 1933 bis 1945 die richtigen Schlüsse gezogen zu haben“, begibt er sich auf ein Terrain, auf dem er sich auskennen sollte: Er handelt von der Geschichte des Geschichtsbewusstseins. Auch mentalitätshistorische Behauptungen sind der Überprüfung anhand von Tatsachen und Quellen zugänglich. Hier stellen sie sich als bodenlose Spekulationen dar, die offenkundig von gegenwärtigen Wünschbarkeiten bestimmt sind, wie Jacob Burckhardt gesagt hätte.
In der Nachkriegszeit spielten die von Winkler beschworenen Moralisierungen des Asylrechts nämlich lange überhaupt keine Rolle, und zwar schon deshalb nicht, weil seinerzeit – was Fachkollegen Winklers gut erforscht haben und er selbst im „Historikerstreit“ von 1986 beklagte – eine Schlussstrichmentalität dominierte und Konsequenzen aus der NS-Herrschaft ganz überwiegend als Siegerjustiz wahrgenommen wurden. Bis in die Sechzigerjahre gab es keine Asyldebatten, wie sie die heutige Tagespolitik in Schüben heimsuchen. Trotzdem wurde seit 1949 jährlich über einige Tausend Asylanträge entschieden, die allermeisten, wie Mayers Argument nahelegt, von aus dem Osten vor den Sowjets Geflüchteten.
Zur Rechtspraxis merkt Gärditz an: Soweit es zu Klagen kam, die damals noch auf der Grundlage der Ausländerpolizeiverordnung von 1938 verhandelt wurden (ein erstes Ausländergesetz stammt von 1965, das erste Asylverfahrensgesetz von 1992), wurde von den Gerichten schlicht geprüft, ob die Voraussetzungen von Asyl nach dem alten Artikel 16 des Grundgesetzes vorlagen. Auseinandersetzungen, ob man Asyl auf eine objektive Gewährleistung nach Maßgabe der Gesetze reduzieren wolle, wurden – soweit ersichtlich – erst im Vorfeld des Asylkompromisses geführt, als nach dem Fall des Eisernen Vorhangs plötzlich die Asylzahlen auf mehrere Hunderttausend Anträge hochschossen.
Der „Spiegel“-Essay im Kanzlerduell
Friedrich Merz führte am 9. Februar 2025 im Duell mit Olaf Scholz Winkler unter Verweis auf dessen SPD-Parteibuch als ideellen Sekundanten an, um für die Abschaffung der vermeintlichen deutschen Sonderlast des individuellen Asylgrundrechts zu werben. Das Asylrecht des Grundgesetzes wird aber heute vom Recht der Europäischen Union überlagert.
Zu diesem politisch entscheidenden Punkt kann rekapituliert werden, was Winkler schon 2023 von Gärditz entgegengehalten wurde. Falsch ist, dass jeder illegal Eingereiste sich nur auf das Asylrecht berufen müsse. Das Asylgrundrecht gilt seit 1993 nicht für Einreisen auf dem Landweg (Art. 16a Abs.1 Satz 2 GG). Die Verteilung für die Zuständigkeit für Asylverfahren wird in der Dublin-III-Verordnung der EU geregelt. Sie sieht eine Prüfung der Zuständigkeit und ein Verfahren der geordneten Überführung in den zuständigen Staat vor, das bei Fristversäumung zur Zuständigkeit des Aufenthaltsstaats führt.
Winkler übersieht, dass eine Mehrheit der Aufenthaltsgewährungen in den vergangenen Jahren gar nicht Asyl betraf, sondern den sogenannten subsidiären Schutz, der namentlich bei unzumutbaren Rückkehrbedingungen in Bürgerkriegslagen gewährt wird. Dieser ist unionsrechtlich eingeführt worden. Darüber könnte man – auf Unionsebene – politisch verhandeln, aber mit dem Asylrecht hat es nichts zu tun. Gleiches gilt für den Abschiebungsschutz, wenn im Zielstaat unmenschliche Behandlung droht: Dieser absolute Schutz folgt aus Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der völlig unbestritten schon immer ein Individualgrundrecht enthielt.
Dass in der heutigen behördlichen Praxis rechtliche Pflichten oder politische Aufgaben irgendwie einer „eigenwilligen und anfechtbaren Auslegung der asylpolitischen Bestimmungen des Grundgesetzes“ untergeordnet werden, wie es sich der „Spiegel“-Essayist in seiner Phantasie ausmalt, ist unzutreffend. Winkler verkennt mit seiner falschen These vom anders gemeinten Grundrecht, dass 1992/93 die Option, ein subjektives Individualgrundrecht abzuschaffen, offen auf dem Tisch lag. Man hat sich jedenfalls mit dem Asylkompromiss von 1993, der heute so häufig als vorbildlich hingestellt wird, eindeutig für die Beibehaltung eines Individualgrundrechts entschieden. In der verfassungsrechtlichen Literatur, die Gärditz in seiner Kommentierung Revue passieren lässt, wird der geltende Artikel 16a Absatz 1 des Grundgesetzes daher von niemandem als ausschließlich objektive Gewährleistung gedeutet.
Lehrreich ist die Lektüre von Winklers „Essay“ durchaus. Der politischen Illusion, durch eine Streichung des Individualrechts aus dem Grundgesetz eine merkliche Senkung der Flüchtlingszahlen erreichen zu können, entspricht die Kurzsichtigkeit der Sonderwegstheorie, die linke britisch-amerikanische Historiker lange vor 1989 kritisierten: ein methodologischer Nationalismus, der sich nur für das eigene Land interessiert.