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„Ohne Tagesschau24 wären wir um Jahre zurückgeworfen“ • Medieninsider | ABC-Z

Hinter der Wand, die jeden Abend rund zehn Millionen Zuschauer sehen, wird ein Dilemma deutlich. Geht hier etwas kaputt, wird die Tagesschau zur Zitterpartie. Wie die Projektoren, die die Bildschirmwände von hinten ins vertraute Blau tauchen und mit Bildern bespielen, ist auch das übrige Studio längst ein Auslaufmodell. Vieles, was hier vor mehr als zehn Jahren verbaut wurde, wird nicht mehr hergestellt, erklärt Marcus Bornheim beim Rundgang. Eine Lösung gibt es bereit, nur lässt sie auf sich warten. Hinter einer weiteren Wand, im Raum nebenan, soll ein neues Nachrichtenstudio entstehen. Zeigen kann Bornheim noch nichts. Der Bau dauert noch einmal länger als zuletzt erwartet.

Bornheim ist der Mann hinter den Kulissen von Tagesschau und Tagesthemen und Zeit, um auf die Zukunft zu warten, hat er eigentlich keine. Er ist nämlich längst dabei, sie zu gestalten. Seit 2019 bestimmt er als Erster Chefredakteur von ARD-aktuell die Strategie der Nachrichteneinheit, die neben den beiden linearen Leuchttürmen verstärkt aufs Digitale setzen soll. Dafür nutzt Bornheim Synergien mit dem linearen Sender Tagesschau24, den ARD-aktuell zusätzlich und aus Bordmitteln zum vollwertigen Nachrichtensender ausbauen soll. Noch vor wenigen Jahren von den Intendanten der ARD ausdrücklich gewünscht, wird der Spartensender nun von der Politik zur Debatte gestellt.

Das neue Studio ist also nicht die einzige Baustelle des Chefredakteurs, der sich im Interview entschlossen wie optimistisch zeigt. Mit Medieninsider spricht Bornheim über den Umbau bei ARD-aktuell, der auch die Ausgaben der Tagesschau im linearen Fernsehen betrifft. Er erklärt, weshalb die Ergänzung der 20-Uhr-Sendung bei Tagesschau24 nichts mit der Absage an eine Verlängerung im Ersten zu tun hat und warum der neue News-Kanal trotz seiner Bedeutung nicht aus dem neuen Studio senden soll.


Herr Bornheim, sind Sie als Chefredakteur der Tagesschau eigentlich auch mal nachrichtenmüde?

Jeder braucht mal eine Pause, das gilt auch für Nachrichtenjournalisten. Dann bleibt das Smartphone auch mal aus. Zum Glück passiert mir das selten. Alles andere wäre in meiner Position schwierig. Ich sehe meinen Beruf ohnehin als Berufung. Aber ich verstehe, dass viele Menschen mit der Dauerinformation überfordert sind – gerade wenn eine Krise auf die nächste folgt und mehrere Kriege gleichzeitig stattfinden.

Wie reagiert die Tagesschau darauf?

Zum einen, indem wir das tun, was wir immer getan haben: Gerade die lineare Tagesschau wählt weiterhin das Wichtigste des Tages raus und liefert einen kompakten Überblick. Das ist unser Markenkern und ein Grund für unseren anhaltenden Erfolg. Gleichzeitig stellt uns die rasante Nachrichtengeschwindigkeit vor die Herausforderung, Themen nachhaltig abzubilden und mit einem gewissen Abstand noch einmal zu beleuchten. Allerdings ist die Tagesschau nicht das einzige Nachrichtenformat bei ARD-aktuell – und das Fernsehen auch nicht unser einziger Ausspielweg. 

Also verändern Sie sich gar nicht?

Doch, aber je nach Kanal unterschiedlich. Auf Social Media, etwa bei TikTok oder Instagram, tritt die Tagesschau mit Presentern und Themen auf, die besser zur dortigen Zielgruppe passen. Auch auflockernde Themen haben dort Platz. Im Digitalen nutzen wir den Raum für noch mehr Erklärung und Hintergrund. Und auch für den Austausch mit den Usern, wie beim interaktiven Format Tagesschau Together. Auch die lineare Tagesschau verändert sich schrittweise. Zuschauer schätzen unsere Seriosität und Vertrauenswürdigkeit, wünschen sich aber ein moderneres Erscheinungsbild und mehr Nähe. Die Texte der 20-Uhr-Ausgabe ähneln deswegen mittlerweile mehr denen der moderierten Nachmittagsausgaben. Unsere Sprecher moderieren de facto, sie führen Interviews, sprechen mit Korrespondenten. Sie sind dadurch mehr als reine Vorleser. Sie stehen heute überwiegend neben dem Pult, seltener dahinter.  Dadurch entsteht eine größere Nähe. Wir lassen in den Beiträgen mehr Stimmen aus den Regionen und weniger klassische Funktionsträger zu Wort kommen. Zudem erklären wir mehr Hintergründe. Wer das Weltgeschehen besser versteht, kann es auch besser einordnen und verarbeiten. Das hilft gegen die Überforderung. Und wir versuchen die Zuschauer mit etwas Positivem in den Abend zu entlassen – auch wenn der Platz dafür nicht immer ausreicht.  

Die Tagesschau steht für Objektivität und Ausgewogenheit. Je mehr Einordnung, desto größer das Risiko, bei emotional oder ideologisch aufgeladenen Themen anzuecken. Wie gehen Sie damit um?

In der linearen Tagesschau können wir Konflikte nicht bis ins letzte Detail ausleuchten. Aber schon der Hinweis auf unterschiedliche Interessenlagen – etwa beim aktuellen Konflikt zwischen Thailand und Kambodscha – schafft mehr Verständnis. Wir haben auch den Anteil an erklärenden Grafik-Beiträgen erhöht. Wichtig ist, dass wir bei den Fakten bleiben. Auf digitalen Kanälen können wir ausführlicher werden und mehr Kontext bieten. Wir nennen das „Tagesschau + X“. Der Kern bleibt die Nachricht, aber von dort aus ist vieles möglich.

Wie flexibel sind Sie beim Umgang mit der AfD, deren Verhältnis zu Fakten immer wieder infrage gestellt wird? Spiegel-Chefredakteur Dirk Kurbjuweit hat erklärt, deshalb keine Wortlautinterviews mit AfD-Politikern mehr zu führen. Helge Fuhst, Zweiter Chefredakteur bei ARD-aktuell, hat ähnlich begründet, dass es bei den Tagesthemen mit der AfD weniger Interviews gebe als mit anderen Parteien.

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