Mutter aller Kneipen wird 125 Jahre | ABC-Z

Die Zitronen und Kirschen rotieren, die Siebener und Glocken auch. Aber sie wollen nicht in einer Reihe stehen bleiben. Die Frau am Spielautomaten, mittleres Alter, aschblonde Haare, nimmt es regungslos hin. Den anderen Kneipengästen den Rücken zugewandt, blickt sie auf die blinkende Anzeige des „Fruitinators“.
Draußen ist es kalt, ein nebliger Tag Anfang Februar, auch drinnen im Moseleck ist es kühl, die Frau am Automaten hat ihre Steppjacke angelassen. Zwischen den Fingern der linken Hand hält sie eine Zigarette, der rechte Daumen ruht auf der Stopptaste. Neben dem Automaten steht eine Tasse, darin ein Rest Kaffee. Nächste Runde, Tastendruck. Das Glück kann noch kommen, bestimmt.
Es ist früher Nachmittag, das Moseleck ist schon seit mehr als sieben Stunden offen. „Von 6:00 – 4:00 früh“ steht draußen auf dem Leuchtschild über dem Eingang. In den zwei Stunden Schließzeit wird geputzt, außer am Wochenende, da kehrt die Thekenmannschaft kurz durch, und es ist rund um die Uhr geöffnet. Hinter dem Tresen steht Manfred, grauer Kinnbart, Brille, über dem Sweatshirt trägt er ein Hemd und darüber noch eine Jacke.
Location Scout lieben die Kulisse
Der Nachname tue nichts zur Sache, sagt er. Hier heißt er für alle nur Manfred. Er ist 67 Jahre alt, und dafür, dass er seit Ewigkeiten in wechselnden Kneipen des Bahnhofsviertels arbeitet, hat er sich gut gehalten. Im Moseleck ist er seit sieben Jahren. Er identifiziert sich, weiß, dass er hier gebraucht wird. Manchmal, wenn er morgens um sechs zum Aufschließen kommt, stehen die Stammkunden schon da und warten darauf, eingelassen zu werden.
Wäre dies ein Artikel in einem Reiseführer oder einem Influencer-Blog, dann hätte er anders begonnen. Dann wären schon Sätze gefallen wie: „Der Kult-Treff im Frankfurter Bahnhofsviertel“, „Die urigste Kneipe von Mainhattan“ oder „Hier schlägt das Herz der Bankenmetropole“. Es wäre erwähnt worden, dass Kunststudenten und Theaterschauspieler im Moseleck ihr Pils trinken, dass Zuhälter auf Banker, Eintracht-Ultras auf Unternehmensberater, Clubgänger auf die Nachbarn aus dem Bahnhofsviertel treffen.
Falsch wäre das nicht. Denn tatsächlich ist das Moseleck ein besonderer Ort. Einer, wie es in Frankfurt nur wenige gibt. Eine Eckkneipe wie aus dem Bilderbuch: Das Inventar vollgesogen mit dem Nikotin der Jahrzehnte, die Wände gepflastert mit Fußballstickern, eine Dartscheibe, ein Zigarettenautomat, vier Zapfhähne für Bier, einer für Äpfelwein.
Es hat schon seine Gründe, warum die Location Scouts, wenn sie Drehorte für Film- und Fernsehproduktionen suchen, immer wieder im Moseleck landen. Ob im „Tatort“ des Hessischen Rundfunks oder in Dokumentationen wie „Zwischen Kult und Krawall“ von Spiegel-TV – eine bessere Kulisse für Geschichten aus der wilden Großstadt als das Moseleck lässt sich kaum finden.
Seit 125 Jahren gibt es das Lokal an der Ecke von Moselstraße und Münchener Straße, die am 29. März 1900, als zwischen der Brauerei Stern und dem damaligen Hausbesitzer der Mietvertrag geschlossen wurde, noch Kronprinzenstraße hieß. Die Gastwirtschaft hat das Kaiserreich, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus, die deutsche Teilung und die Wiedervereinigung erlebt. Den Titel „Mutter aller Frankfurter Kneipen“ hat sie sich redlich verdient. Seit 1995 wird sie von Wirt Harald „Harry“ Statt geführt.
Essen gibt es schon länger nicht mehr, dafür sind die Getränke günstig, für Frankfurter Verhältnisse ein Schnäppchen. Das kleine Glas Henninger Export oder der Äpfelwein für zwei Euro, der Asbach, Wodka oder Jägermeister für 2,50 Euro – so steht es auf der vergilbten Karte, die im Schaukasten vor dem Lokal hängt. Dort, auf dem Bürgersteig bis auf die Straßenkreuzung, drängen sich nach Eintracht-Heimspielen die Fans. Drinnen in der Kneipe ist dann längst kein Platz mehr. Manchmal geht es hoch her, draußen und drinnen. Die Hocker sind nicht ohne Grund im Boden verankert.
Die meisten Probleme mit betrunkenen oder randalierenden Gästen kann die Thekenmannschaft allein lösen. „95 Prozent kriegen wir selbst hin“, sagt Manfred. „Und beim Rest ist die Polizei innerhalb von 20 Sekunden da.“ Die Ordnungshüter, im Bahnhofsviertel sowieso omnipräsent, wissen: Wenn die handfeste Truppe aus dem Moseleck um Hilfe ruft, dann geht es wirklich rund.

Wobei die Zustände hier im südlichen Teil des Quartiers nicht vergleichbar sind mit denen im nördlichen, wo die Drogenkranken an den Hauswänden liegen. Auf der bunt gemischten, allzeit geschäftigen Münchener Straße hingegen kann man Hoffnung schöpfen, dass multikulturelle Urbanität doch funktioniert, an guten Tagen zumindest.
In einer außerhalb des Bahnhofsviertels oft glatt gebügelten und durch horrende Mieten durchgentrifizierten Stadt wie Frankfurt hat das Moseleck fast eine Alleinstellung. Touristen werden von Tripadvisor in die „Kult-Kneipe“ gelotst, Wirtschaftsanwälte, die cooler sein wollen als ihre Kollegen, kommen nach einem Immobiliendeal hierher, um das echte Großstadtleben zu spüren: rau, exotisch, ein klein bisschen gefährlich. Dafür nimmt man gern in Kauf, dass der Mantel zwei Tage nach Rauch stinkt.
Es ist zur Hälfte nett gemeint
Am Samstag, 8. Februar, werden sie alle zusammenkommen – die Stammgäste, die Hipster, die Eintracht-Ultras. Von 17 Uhr an werden 125 Jahre Moseleck gefeiert – und das so, wie es sich gehört: mit Freibier. Zu Beginn jeder vollen Stunde gibt es fünf Minuten lang Henninger-Bier oder Apfelwein-Schoppen von Possmann aufs Haus. Das etwas komplizierte Reglement ist die Lehre aus dem 100-Jahre-Jubiläum. Damals gab es nur eine Stunde am Stück Freibier – und wer danach kam, ging leer aus.
Dass die Gäste am Samstag bis auf die Kreuzung stehen, dass sie der Mutter aller Kneipen ihre Liebe schwören, dass gefeiert wird, bis die Polizei kommt, daran besteht kein Zweifel. Wer die Eckkneipe wirklich kennenlernen möchte, der sollte besser an einem ganz normalen Tag kommen.
Zu einer Uhrzeit, zu der außer der Frau am Spielautomaten nur vier, fünf andere Gästen da sind. Im Hintergrund läuft „Purple Rain“ und „Don’t cry for me Argentina“, auf dem Bildschirm ein Tennismatch, für Fußball ist es noch zu früh. Am Tisch in der Ecke wird gelacht. Als einer dazwischenquatscht, sagt ein anderer: „Halt die Fresse.“ Es ist zur Hälfte nett gemeint.
„Hast Du noch ein Bier?“, fragt ein Gast. „So viel, dass ich es verkaufen kann“, sagt Manfred mit der Souveränität von Jahrzehnten hinter der Theke. Ein Mann, der in Kapuzenjacke am Tresen lehnt, bestellt zum Pils noch einen Whisky. Wer hier um die Mittagszeit Alkohol trinkt, der würde es auch zu Hause tun. Dann aber allein, mit Kirschen und Glocken, die auf dem PC-Bildschirm rotieren, ohne „Purple Rain“, ohne Gespräch, ohne Gesellschaft.
Und ohne Manfred, der liebe Gäste zum Abschied schon mal in den Arm nimmt. „Denk dran – tu nichts, was ich nicht auch tun würde“, ruft er noch hinterher. Dann schließt sich die Tür mit den Eintracht-Stickern. Draußen ist ein kalter, nebliger Tag Anfang Februar.