Mögliche Intrige in Berlin: Der verworrene Fall Stefan Gelbhaar | ABC-Z
Der Fall ist komplex, schwer zu durchschauen und spielt sich auf mehreren Ebenen der Berliner Politik ab: Fünf Wochen vor der Bundestagswahl sieht es so aus, als sei der Grünen-Bundestagsabgeordnete Stefan Gelbhaar Opfer einer parteiinternen Intrige geworden. Ein entscheidender Teil der Belästigungsvorwürfe, die die politische Karriere des 48-Jährigen jäh ausgebremst haben, ist offenbar frei erfunden.
Recherchen des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) legen nahe, dass die Vorwürfe von einer Grünen-Bezirkspolitikerin unter falscher Identität erhoben worden sein könnten. Der Sender zog am Freitag einen Teil seiner Berichterstattung zurück. Die Bundesvorsitzenden Franziska Brantner und Felix Banaszak erklärten auf eine Anfrage von ntv/RTL: „Der Verdacht, dass gegenüber der Presse eine falsche Erklärung gegen ein anderes Parteimitglied mit schweren Vorwürfen erhoben wurde, ist gravierend.“ Am Samstag verließ dann die Grünen-Bezirkspolitikerin Shirin Kreße die Partei. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wer ist Gelbhaar, und was ist über die Vorwürfe gegen ihn bekannt?
Der Berliner Grünen-Politiker Gelbhaar ist seit 2017 Mitglied des Bundestags. Bei der Wahl 2021 hatte er das Direktmandat im Wahlkreis Pankow in der Hauptstadt gewonnen. Die Belästigungsvorwürfe gegen Gelbhaar kamen im Dezember auf, Medien berichteten. Der RBB bezog sich bei seiner Berichterstattung auf Vorwürfe von Frauen, die diese dem Sender zum Teil eidesstattlich versichert haben sollen.
Ob der Sender die Personen alle selbst getroffen und wie er deren Aussagen überprüft hat – das ist im Detail nicht bekannt. RBB-Chefredakteur David Biesinger teilte auf Anfrage von ntv/RTL mit: „Uns ist als RBB in der Recherche ein Fehler unterlaufen. Journalistische Standards sind nicht vollumfänglich eingehalten worden.“
Gelbhaar wies alle Anschuldigungen stets zurück. Er verzichtete nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe gleichwohl auf eine Kandidatur für den Bundestag über die Landesliste. Zuvor hatten die Landesparteichefs Nina Stahr und Philmon Ghirmai ihn laut „Tagesspiegel“ unter Druck gesetzt. Sie hatten demnach in einer Mitteilung über „vorliegende schwerwiegende Vorwürfe“ gesprochen. Inzwischen ist die Mitteilung von der Internetseite der Partei gelöscht. An Silvester erklärte er auf seiner Webseite: „Die Vorwürfe sind gelogen.“ Bei dem Vorgang müsse es sich „um eine in Teilen geplante Aktion“ handeln, mit dem Ziel, ihn massiv zu diskreditieren.
In einem Interview mit dem „Business Insider“ am 9. Januar betonte Gelbhaar, niemals jemanden absichtlich belästigt zu haben. Gegen ihn lägen auch keine Strafanzeigen vor. „Nein, im Gegenteil. Ich habe Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Verleumdung gestellt“, sagte Gelbhaar dem Online-Medium. Die Staatsanwaltschaft bestätigte an diesem Sonntag nochmals, dass bisher keine Anzeigen gegen Gelbhaar vorlägen.
Wann kamen Zweifel an den Vorwürfen auf?
Der genaue Zeitpunkt ist unklar. Bekannt ist: Am Freitagabend machte der RBB bekannt, dass er einen Teil der Berichterstattung auf seiner Website lösche. Es gebe Zweifel an der Identität einer Frau, die eine eidesstattliche Versicherung abgegeben habe, hieß es. Mittlerweile stehe fest, dass sie nicht diejenige gewesen sei, für die sie sich ausgegeben habe, so der RBB. „Mit hoher Wahrscheinlichkeit existiert diese Frau gar nicht.“ Recherchen hätten zu einer grünen Bezirkspolitikerin geführt, die der RBB nicht namentlich nannte.
Tage zuvor hatte bereits der „Tagesspiegel“ berichtet, dass es Zweifel an der Identität der angeblichen Zeugin gebe, von der die schwersten Vorwürfe erhoben wurden. Die Zeitung schrieb am Wochenende, dass die Redaktion bereits am Montag eine Anfrage an den RBB gesendet, aber keine Rückmeldung erhalten habe. Am Freitagabend berichtete dann der RBB selbst und berief sich auf eigene Recherchen.
Der „Tagesspiegel“ meldete vor Tagen unter Berufung auf eigene Recherchen, dass an der in einer eidesstattlichen Versicherung einer Frau vermerkten Adresse jedoch nicht ihr Name an einer Klingel oder an einem Briefkasten zu finden sei. Auch eine Abfrage im Einwohnermelderegister habe gezeigt, dass die Urheberin einer eidesstattlichen Versicherung offenbar nicht an der angegebenen Adresse gemeldet sei, hieß es weiter von der Zeitung. Nachbarn sagten auf Nachfrage des „Tagesspiegel“, dass sie die Frau nicht kennen würden.
Der RBB-Chefredakteur teilte mit, die hinter der eidesstattlichen Versicherung liegende Identität sei von der Redaktion nicht ausreichend überprüft worden. Details wurden nicht genannt. Laut RBB wurde gegen die Person Strafanzeige gestellt, die die falschen Erklärungen abgegeben haben soll.
Was ist über den Parteiaustritt einer Grünen-Politikerin bekannt?
Am Samstag wurde bekannt, dass die Berliner Bezirkspolitikerin Shirin Kreße aus der Partei ausgetreten ist. Kreße hatte an dem Tag „ohne Nennung von Gründen“ per Mail an den Kreisvorstand ihr Mandat als Fraktionsvorsitzende in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von Berlin-Mitte zum nächstmöglichen Zeitpunkt niedergelegt, wie zuerst der „Tagesspiegel“ berichtete. Sie selbst äußerte sich bisher nicht öffentlich – und auch nicht auf Anfrage.
Dass es einen Zusammenhang zwischen ihrem Parteiaustritt und der Diskussion um Gelbhaar gibt, ist nicht bestätigt. Zuvor hatten die Grünen-Vorsitzenden Franziska Brantner und Felix Banaszak mit dem Rauswurf aus der Partei gedroht, sollte die verantwortliche Person ein Parteimitglied sein. Zum Austritt von Kreße äußerte sich die Bundesspitze auf dpa-Anfrage zunächst nicht.
Dagegen zeigten sich der Grünen-Kreisvorstand von Berlin-Mitte und der BVV-Vorstand „schockiert, berichtet der „Tagesspiegel“. „Wer eine falsche eidesstattliche Erklärung abgibt und andere damit schwer belastet, begeht im Zweifel nicht nur eine Straftat, sondern fügt der Partei als Ganzes, der gemeldeten Person und den Strukturen zur Aufklärung entsprechender Vorwürfe erheblichen Schaden zu“, schrieben sie in einer gemeinsamen Erklärung. „Ein solches Verhalten hat keinen Platz bei uns Bündnisgrünen.“
Wie wird der Fall aufgearbeitet – und sind alle Vorwürfe vom Tisch?
Dem RBB zufolge sind bislang nicht alle Vorwürfe gegen Gelbhaar ausgeräumt. „Aber mindestens ein wesentlicher Vorwurf, über den wir berichtet hatten, schon“, erklärte RBB-Redakteur Thorsten Gabriel am Freitagabend. Es habe noch „weitere Schilderungen“ gegeben. Die Vorwürfe hätten aber eine deutlich geringere Fallhöhe. Um was es dabei konkret ging, ist bisher unklar.
Seit mehreren Wochen prüft auch die Ombudsstelle der Grünen die Vorwürfe. Ergebnisse sind bislang nicht bekannt. Ob die aktuellen Entwicklungen Auswirkungen auf die Aufarbeitung in der Ombudsstelle haben und ob sich die falsche Zeugin auch dort gemeldet hatte, blieb auch nach mehreren dpa-Anfragen dazu offen. Auch die Grünen-Pressestelle reagierte zunächst nicht auf entsprechende Nachfragen.
Was bedeutet der Fall für die Grünen im Wahlkampf?
Der Fall sorgt für Unruhe – auch weil bislang nicht vollständig geklärt ist, was an den übrigen Vorwürfen gegen Gelbhaar dran ist und ob es möglicherweise noch weitere Beteiligte gibt. Die Union griff das Thema im Wahlkampf bereits auf und sprach von einem „brutalen Hauen und Stechen“ im direkten Umfeld von Kanzlerkandidat Robert Habeck. Dessen Wahlkampfmanager Andreas Audretsch erklärte am Wochenende, „mit dem gesamten Vorgang nichts zu tun“ zu haben. Audretsch und Gelbhaar wollten ursprünglich beide für Platz zwei auf der Landesliste kandidieren. Nachdem Gelbhaar vor dem Hintergrund der Vorwürfe seine Kandidatur kurz vor dem Landesparteitag zurückgezogen hatte, wurde Audretsch gewählt. Der Listenplatz zwei ist eine nahezu sichere Bank für den Einzug in den Bundestag.
Wie geht es für Gelbhaar jetzt weiter?
Für Gelbhaar gilt die Unschuldsvermutung. Der politische Schaden für ihn ist dennoch schon jetzt groß. Seine Karriere als Bundestagsabgeordneter ist wohl vorerst beendet. Bei der wegen der Vorwürfe wiederholten Abstimmung über die Direktkandidatur für den Bundestag unterlag er am 8. Januar der Landesabgeordneten Julia Schneider mit deutlichem Abstand. Bei der ersten Wahlversammlung Mitte November war Gelbhaar noch mit 98,4 Prozent der Stimmen zum Direktkandidaten gewählt worden. Am Wochenende teilte der Kreisverband mit, an Schneider als Direktkandidatin festhalten zu wollen.