Linken Begriff wird rechte Parole | ABC-Z

Die politische Vernunft kollabiert. Ressentiments und disruptives Sprechen übersetzen sich in Wahlergebnisse, die rechtsextreme Parteien an die Macht spülen. Die Rede vom Ende der liberalen Demokratien macht längst die Runde.
Begriffe wie Tech-Kapitalismus, reaktionärer Hyper-Neoliberalismus oder neuer Faschismus geistern herum, etwas hilflos versucht man zu fassen, dass die kapitalistischen Gesellschaften erneut an einem Übergang stehen, an dem sich neue Rackets aus rechtslibertären Milliardären und autokratischen Politikern bilden. Dass dieser Übergang für viele Menschen ein existenzieller sein wird, kann man bereits erahnen.
Kommende Woche geht Donald Trump in seine zweite Amtszeit und längst ist klar, dass diese sich von der ersten noch einmal negativ unterscheiden wird. Allein was sein Personal angeht. Fast könnte man meinen, Verbindungen zu sexueller Gewalt und rechtsextremen Szenen gehörten zum neuen Stellenprofil eines zukünftigen US-Ministers.
Donald Trump macht Ernst mit seiner Antimoral, während seine Anhänger seinen Willen zur Disruption bewundern, den er stellvertretend für sie auslebt. Alles muss weg. Dass die Folgeschäden bei ihnen und weniger bei ihm liegen werden, scheint keine Rolle zu spielen. Wer denkt schon an die Folgen, wenn Zorn sich zu einem Zeichen von Moralität entwickelt hat und Empörung „zum Bestandteil einer moralischen Orientierung in der Welt“ geworden ist, wie die Soziologin Eva Illouz in ihrem neuen Buch „Explosive Moderne“ in Anlehnung an ihren Kollegen Bruno Chaouat eindrücklich darlegt. Der Zorn als Ausweis von Moralität gehört zur Signatur der neuen Rechten, auch in Europa.
Alles kann zur Spielmasse werden
Trump und die neue Rechte praktizieren eine Antipolitik, die Politik durch Grenzüberschreitung ersetzt. Ob demokratische Regeln oder institutionelle Verfahrensweisen, ob moralische Übereinkünfte oder geopolitische Verträge: Alles kann zur Spielmasse werden. Darin liegt auch etwas zutiefst Anarchisches. Rhetorik und Praxis der Grenzüberschreitung sind zu einer Domäne der neuen Rechten geworden. Das war nicht immer so.
Verstörend ist, dass die Taktik der Grenzüberschreitung eigentlich mit der Geschichte der linken Gegenbewegungen verknüpft ist. Sie war die vielleicht wirkmächtigste Idee der postmodernen Theorie, die im Anschluss an Friedrich Nietzsche, Georges Bataille und Maurice Blanchot eine Kritik der Moderne und deren Rationalität formulierte, die bis heute nachwirkt. Am stärksten ist sie von dem Philosophen Gilles Deleuze ausgegangen. Sie war eine Taktik der sozialen Kritik gegen autoritäre Schließungen und Vereinnahmungen, die die Dadaisten und Situationisten bereits praktiziert hatten.
Am 18. Januar wäre Gilles Deleuze 100 Jahre alt geworden. Immanenz statt Transzendenz, Minorität statt Majorität und Werden statt Sein – das ist vielleicht die kürzeste Formel, unter der man sein Projekt zusammenfassen kann. Er hatte einen Imaginationsraum geöffnet, der über Jahrzehnte in linken Subkulturen und den Künsten reich gefüllt wurde. Es gab Zeiten, in denen allein sein Name hinreichte, um Affekte zu kanalisieren und Gegenidentitäten ins Leben zu rufen. Und das, obwohl die meisten wohl wenig mehr als eine trübe Ahnung hatten, was mit Begriffen wie Rhizom oder Kriegsmaschine gemeint war.
Eine leere kulturindustrielle Geste
Wie sehr diese Begriffe dann irgendwann auf der Straße lagen, zeigen heute die zahllosen Theater- oder Ausstellungstexte, in denen Normüberschreitungen und Selbsterfindungen geradezu inflationär heraufbeschworen werden. Was wiederum belegt, wie sehr die Idee der Grenzüberschreitung mittlerweile – unter den Bedingungen eines neoliberalen anything goes – zu einer leeren kulturindustriellen Geste geworden ist.
Doch nun scheint diese Idee noch mal eine ganz andere Zielrichtung bekommen zu haben. Es stellt sich die Frage: Kehrt die Taktik der Grenzüberschreitung, die Trump als eine Art Anti-Ideologie aufführt, als Aufforderung zum Ressentiment gegen alles Etablierte zurück? Und gibt es deshalb, da die politische Vernunft für so viele neue Machthaber und deren Apologeten kein Referenzrahmen mehr ist, nicht einen dringenden Grund, politische Vernunft und mit ihr verbundene Universalismen zu verteidigen?
Hört man, was Gilles Deleuze in seinem berühmten Interview „The abecedaire“ über die Idee der Menschenrechte sagt, bekommt man eine Ahnung davon, wie falsch die postmoderne Kritik universalistischer Werte von heute aus klingen kann: „Ach, die Achtung der Menschenrechte, da kriegt man richtig Lust, bösartige Sachen zu sagen, das ist so sehr Teil dieses schlaffen Denkens der armen Zeiten. Das ist rein abstrakt, Menschenrechte, was soll das sein, das ist leer.“
Lag die Postmoderne falsch?
Böse betrachtet, könnte man sich für einen Moment vorstellen, dass ein Trump diese Sätze spricht, während er über Asylpolitik nachdenkt. Oder ein ethnopluralistischer Rechter wie der Franzose Alain de Benoist. Doch was heißt das? Dass die Postmoderne falsch lag, dass ihr Denken gefährlich ist, wie oft behauptet? Dass die Taktiken von links ohnehin die selben sind wie von rechts? Mitnichten.
Deleuze fand für die Idee der Grenzüberschreitung auch den Begriff „Deterritorialisierung“. Mit ihm ging es um die Auflösung starrer Strukturen, um Prozesse der Nichtidentifikation und des Werdens. Die kollektiven Exklusionsstrategien mit ihren immer völkischer werdenden Phantasien und die realen Grenzziehungen der Trumpisten hingegen, Deleuze würde von Reterritorialisierungen sprechen, sind das Gegenteil dessen.
Deleuze wollte vor allem Schluss machen mit dem Urteilssystem, das im Namen der Vernunft errichtet worden sei. So wie einst Spinoza, Nietzsche und Artaud. Die Moral erlege uns Regeln auf, die Absichten und Handlungen in Bezug auf transzendente Werte beurteilten. Und wieder Nietzsche, wie bei ihm mündet die Kritik der Moral in die Idee der Umwertung aller Werte. Gegen die aufklärerische Herrschaft der Vernunft brachten die postmodernen Denker den Wahnsinn in Stellung, gegen die Dialektik die Differenz.
Gegen das hierarchische Denken
Die westliche Moderne hatte den Menschen zwar eine Vorstellung von Freiheit und Mündigkeit gegeben, ihre Ordnungssysteme waren jedoch mit neuen Grenzziehungen, mit Ausschluss und Gewalt verbunden. Sie hatte weder den Kolonialismus noch den Zivilisationsbruch der Nationalsozialisten, weder Rassismus noch Antisemitismus verhindert. Gilles Deleuzes älterer Bruder Georges war als Résistancekämpfer von den Deutschen verhaftet worden und auf dem Weg in ein Konzentrationslager gestorben. Oft wurde vergessen, dass die Postmodernen auch aus solcher Erfahrung heraus geschrieben haben. Dennoch ist die Schoa merkwürdig abwesend in ihren Werken.
Deleuze war nach 1968 so etwas wie der Anwalt aller Abweichung geworden. Ein Philosophie-Star, dessen Vorlesungen an der Universität Vincennes einst wahre Pilgerorte waren. In den Fünfzigern und späterhin war er so ziemlich der einzige französische Großintellektuelle, der sich nicht von der autoritären Orthodoxie der Kommunistischen Partei Frankreichs angezogen fühlte. Denn für die Idee einer historischen Mission des Proletariats hatte er wenig übrig, vor allem seit dem Mai ’68, als er sich den Wünschen und dem Begehren zuzuwenden begann, dem „Einbruch des Werdens“, wie er das formulierte, von ihm auch als Kind-Werden und Tier-Werden bezeichnet, das er gegen alles Homogenisierende und Institutionalisierte setzte. Mehr als irgendeine Klasse interessierten ihn die Schizophrenen oder die Alkoholiker und die Deklassierten. Nur im Minoritären fand er schöpferisches Potential.
Seine Aufgabe als Philosoph sah er darin, neue Begriffe zu erfinden. Gegen die Repräsentation und das hierarchische Denken erfand er die Rhizom-Metapher: Das Rhizom wächst und wuchert ins Horizontale, ist vielwurzelig und lässt Verbindungen zwischen all seinen einzelnen Elementen zu, unabhängig von einer vorgegebenen Ordnung oder einem Ausgangspunkt. Ein autoritärer Maoist wie Alain Badiou konnte darin nur einen „Kartoffel-Faschismus“ erkennen. Was steckt hinter der Vielheit des Rhizoms, fragte Badiou unter Pseudonym in einem Text und antwortete: „der revisionistische Despot“. In Vincennes führte er seine maoistischen Männer gegen Deleuze und seine „Anarcho-Wünscher“ an. Sie störten seine Vorlesungen, manchmal musste Deleuze sie abbrechen.
Man muss neue Begriffe finden
Interessant ist, wie manche Konflikte unter völlig anderen Vorzeichen wiederkehren. 2017, als Donald Trump zum ersten Mal Präsident der USA geworden war, sprachen einige von einem endgültigen Triumph der Postmoderne über die Moderne. Von der postmodernen Rationalitätskritik sollte ein direkter Weg zu den Antimodernen und schließlich zu Fake News und Verschwörungsmythen führen, zum Irrationalismus und Obskurantismus Trumps und der Alt-Right-Bewegung. Es würde schon helfen, zwischen Wahrheit und Faktizität zu unterscheiden, um die Absurdität dieser Behauptung zu entlarven.
Aber es bleibt kompliziert, philosophisch wie politisch. Ist Wahrheit politische Einsicht, vernunftmäßige Erkenntnis oder Ergebnis instrumenteller Vernunft?
Deleuze schrieb zwar: „Die Begriffe Wichtigkeit, Notwendigkeit, Interesse sind tausendmal entscheidender als der Begriff der Wahrheit.“ Das wörtlich zu nehmen verkennt jedoch, worum es wirklich ging, nämlich darum, dass die eine transzendente Wahrheit auch nach dem Tod Gottes immer wieder mit anderen Ideen des Absoluten gefüllt würde. Deleuze würde hinzufügen: dass es Wahrheit nicht unabhängig von Epochen, Gesellschaftsformationen und Denkmustern gebe. Dementsprechend müsse man Begriffe und Taktiken in Abhängigkeit von Problemen entwickeln.
Deleuze hat am Übergang dessen, was er Disziplinar- und Kontrollgesellschaft genannt hat, theoretisiert. Disziplinargesellschaft steht für den fordistischen Nachkriegskapitalismus und die ihn kennzeichnende Verbindung aus stark rationalisierter und standardisierter Warenproduktion und linearen Lebensläufen in Normalarbeitsverhältnissen, die sich sozialpartnerschaftlich in sogenannten Einschließungsmilieus aus Schule, Kaserne, Fabrik und Einfamilienhaus vollzogen. Diese Gesellschaftsformation kam mit der Krise des Kapitalismus in den Siebzigern langsam an ein Ende. Es folgte die Deregulation der Produktions- und Lebensweise, der geläufigste Begriff dafür ist Neoliberalismus.
Für diesen Übergang fand Deleuze in dem für seine Verhältnisse sehr zeitdiagnostischen Text „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ das Bild von Maulwurf und Schlange. Der Maulwurf vergräbt sich in Milieus, die Schlange ist wendig und flexibel. Es ist kein Zufall, dass der Impuls zur Grenzüberschreitung aus der starren, geordneten Nachkriegsordnung heraus entstanden ist.
Heute, unter flexibilisierten Verhältnissen und da am Horizont wieder eine neue gesellschaftliche Formation auftaucht, dient die Grenzüberschreitung von rechts nicht der Öffnung, sondern der autoritären Schließung im Übergang zu einer neuen Regierungsform. Was das für Deleuzes Theorie und eine mögliche Aktualisierung bedeutet? Deleuze selbst hätte wohl gefolgert, dass weder zur Furcht noch zur Hoffnung Grund besteht, sondern nur dazu, „neue Waffen“ zu suchen. Wir sollten also nicht bei ihm stehen bleiben, sondern neue Begriffe und Taktiken gegen die autoritären Zumutungen suchen.