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Kreta: Neuentdeckung könnte Rätsel um Linear A lösen – Wissen | ABC-Z

Damals, im Jahr 1900, begann der britische Archäologe Arthur Evans seine Ausgrabungen auf Kreta. Sein Ziel war es, den Palast des mythischen Königs Minos aufzuspüren, jenes legendären Sohnes des Göttervaters Zeus. Von Minos berichten die Sagen, er habe alle neun Jahre sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen dem Minotauros zum Fraß vorgeworfen, einem Monster halb Stier, halb Mensch, das er auf seiner Insel in einem gewaltigen Labyrinth gefangen hielt. König Minos und sein menschenfressender Gefangener gehören zwar ins Reich der Legenden. Tatsächlich aber fand Evans auf Kreta gewaltige Palastanlagen aus der Bronzezeit. Und noch etwas: rätselhafte Schriftzeichen.

Das griechische Alphabet entstand um 800 vor Christus aus phönizischen Vorläuferzeichen. Was Evans entdeckte, ist aber viel älter: Diese Zeichen stammen aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus. Damals blühte auf Kreta eine bronzezeitliche Gesellschaft, die Evans in Anlehnung an den mythischen König minoische Kultur nannte. Diese Minoer bauten überall auf der Insel Paläste, in denen aber wahrscheinlich keine Könige residierten, sondern landwirtschaftliche Überschüsse verwaltet wurden.

Davon zeugen auch Evans Schriftfunde. Bei den meisten handelt es sich um Tontafeln, in die Listen von Waren eingeritzt zu sein scheinen. Sie waren wohl für den alltäglichen Gebrauch gedacht und wurden mehrmals wiederverwendet. Erhalten haben sie sich nur, wenn sie unabsichtlich durch ein Feuer gebrannt wurden, etwa bei einem Angriff auf den Palast.

Von einem Tag auf den anderen waren die gängigen Theorien über die Geschichte Kretas hinfällig

Evans identifizierte auf diesen Täfelchen und anderen Zeichenfunden drei verschiedene Schriftsysteme: kretische Hieroglyphen sowie die sogenannten Linearschriften A und B. Lesen konnte er keine davon. Dazu hatte er allerdings auch keinen besonders großen Ehrgeiz, denn er war überzeugt, dass es sich bei der zugrunde liegenden Sprache unmöglich um verständliches Griechisch handeln könne. Erst als die Paläste um das Jahr 1200 vor Christus im sogenannten Bronzezeitkollaps zerstört wurden, seien Griechen vom Festland nach Kreta gekommen, so die damals weitgehend einhellige Meinung.

Umso größer war die Überraschung, als es dem Briten Michael Ventris 1952 gelang, Linear B zu entziffern, das jüngste der drei Schriftsysteme. Was er dort entdeckte, war eine frühe Form des Griechischen. Von einem Tag auf den anderen waren die Theorien über die vermeintliche Dorische Wanderung, in der die Griechen die minoische Kultur inklusive ihres Schriftsystems zerstört hätten, hinfällig.

Ventris hatte erkannt, dass viele Zeichen der Linearschrift B für Silben stehen, die sich aus je einem Konsonanten und einem Vokal zusammensetzen, etwa „wa“ oder „do“. Den Namen der Stadt Knossos las Ventris zum Beispiel als „ko-no-so“. Linear A dagegen ist bislang kaum entziffert. Doch da Ortsnamen wie dieser in beiden Schriftsystemen meist übereinstimmen, gehen Forscher heute davon aus, dass Linear A nach demselben Prinzip funktioniert wie Linear B und viele der Zeichen identisch sind. Linear B wäre dann eine Weiterentwicklung von Linear A, die für die Erfordernisse der griechischen Sprache angepasst wurde, als die Griechen um das Jahr 1450 vor Christus nach Kreta einwanderten und den Palast von Knossos übernahmen.

„Wir können Linear A heute durch Vergleich mit den aus Linear B bekannten Zeichen schon recht gut lesen“, sagt Torsten Meißner, der als historischer Linguist an der Universität Cambridge zu alten Schriftsystemen und Sprachen forscht. „Das Problem ist nur, dass wir die Sprache, die dabei herauskommt, nicht verstehen.“ Nur weil man lesen kann, dass da beispielsweise „ku-ro“ steht, weiß man noch lange nicht, was das bedeutet. Denn anders als Linear B scheint Linear A kein Griechisch zu codieren, sondern die ältere Sprache der Minoer, die vor der Ankunft der Griechen auf Kreta lebten. Über diese Sprache ist so gut wie nichts bekannt. Sicher ist nur, dass sie nicht wie Griechisch, Latein oder Deutsch zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehört.

Meißner sagt, es habe unzählige Versuche gegeben, das Minoische mit bekannten Sprachen zu verbinden. Keiner sei bisher wirklich überzeugend. „Als am wenigsten unplausibel erscheint mir die Hypothese, dass das aus Italien bekannte Etruskische der nächste bekannte Verwandte des Minoischen sein könnte“, sagt er. Doch auch über diese Sprache wisse man wenig.

„Alle bekannten Linear-A-Texte passen auf drei DIN-A4-Seiten.“

Hinweise auf die Bedeutung einzelner Wörter können Lehnwörter geben, die ins Griechische übernommen wurden, etwa das Wort für Wolle: μαλλός („mallós“). Es wurde auf Linear-A-Täfelchen als ursprünglich minoisches Wort identifiziert, dort schrieb man es mit den beiden Zeichen „ma-lu“. Zahlreiche Inschriften und auch einige Erwähnungen bei antiken Autoren belegen, dass das Minoische oder eine Nachfolgesprache noch über Jahrhunderte in einigen Regionen Kretas gesprochen wurde und sich beide Sprachen gegenseitig beeinflussten. Sogar einige zweisprachige Inschriften wurden gefunden. Würden davon noch mehr auftauchen, könnte man der Entschlüsselung dieser Sprache vielleicht näher kommen.

Doch das größte Problem bei der nun seit mehr als 100 Jahren versuchten Entzifferung von Linear A ist die Quellengrundlage. „Alle bekannten Linear-A-Texte passen auf drei DIN-A4-Seiten“, sagt Meißner. Auf so einer schmalen Basis sei eine Entzifferung praktisch unmöglich. Erschwerend komme hinzu, dass es sich fast ausschließlich um Listen handelt. Ganze Sätze, die etwa Aussagen über die Grammatik der Sprache ermöglichen würden, sind selten.

Hier kommt jener mysteriöse Gegenstand ins Spiel, den Archäologin Athanasia Kanta der kretischen Erde abgetrotzt hat. Es handelt sich um einen Ring aus Elfenbein mit rund 14 Zentimetern Durchmesser, gefertigt aus dem Querschnitt eines Elefantenstoßzahns, mit einem dazugehörigen Griff. Meißner vermutet, dass sich im Inneren des Rings einst ein Spiegel befand. Das Objekt ist von allen Seiten mit Schriftzeichen der Linearschrift A versehen, insgesamt 119 auf dem Ring und noch weitere auf dem Griff. Das macht es zur längsten bislang bekannten Inschrift in Linear A überhaupt.

Hinzu kommt: Offenbar geht es nicht bloß um eine weitere Inventarliste. „Vermutlich handelt es sich um Anweisungen für eine religiöse Prozession“, sagt Meißner mit Blick auf abgebildete Tierfiguren. „Fest steht, dass es ein Gegenstand von außergewöhnlicher Bedeutung und enorm hohem Wert war. Die Details der Tierfiguren sind teilweise nur den Bruchteil eines Millimeters groß. Das ist ein schlichtweg unglaubliches Zeugnis für die Kunstfertigkeit der Minoer.“ Mehrere bekannte Siegel von Kreta zeigen eine Priesterin, die einen Gegenstand in der Hand hält, der so aussieht wie jener, der in Knossos gefunden wurde. Das stützt die These, dass es sich um ein Kultobjekt handelt. Es ist gut möglich, dass die Inschrift in ganzen Sätzen formuliert ist. „Dann könnte es tatsächlich einen wichtigen Beitrag zur Entzifferung leisten“, meint Torsten Meißner.

Der Forscher bremst zugleich die Erwartungen. „Leider ist die Inschrift noch nicht als Ganzes veröffentlicht, aber vermutlich wird die Beschäftigung damit ziemlich frustrierend werden, weil wir so wenig über die Sprache wissen, die sich dahinter verbirgt“, sagt Meißner. Wie aussagekräftig das Objekt für die Entzifferung von Linear A sein wird, müsse sich zeigen. Wichtig sei aber zu verstehen, dass die Entzifferung ein Prozess sei, kein einmaliges Ereignis, sagt er. Man mache durchaus Fortschritte. Es zähle jeder kleine Schritt.

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