„Jetzt holen wir wieder einen alten Sack!“ | ABC-Z

„Gut?“ Immer wieder: „Gut?“ Das ist der Ton auf dem Trainingsplatz an der Alten Försterei am späten Donnerstagnachmittag. Die Einheit ist schon seit einer halben Stunde vorbei, die Spieler sind Richtung Kabine verschwunden, aber einer hat immer noch zu tun: „Gut?“ Steffen Baumgart fragt bei jedem Foto, bei jedem Selfie nach, erst dann geht es weiter. Und wenn doch noch etwas ist, ein Kind, dem noch ein Autogramm fehlt oder jemand auf dem Foto, geht es eben noch mal einen Schritt zurück: „Ich bin ja nicht weg!“
Steffen Baumgart ist seit Donnerstag wieder da. Und was das Besondere daran ist, kann man schon daran erkennen, dass nicht 30 oder 40 Fans gekommen sind wie sonst, wenn der 1. FC Union öffentlich trainiert, sondern 740, wie Christian Arbeit, der Geschäftsführer Kommunikation beim Fußball-Bundesligaklub, an der Seitenlinie mit Erstaunen registriert.
Oder auch am kleinen Feuerwerk, das während des Trainings hinter dem Zaun auf der anderen Seite hochgegangen ist. Was das Besondere daran ist, dass Baumgart, der am Sonntag 53 Jahre alt wird, zurück in Berlin-Köpenick ist, kann man aber vielleicht am besten anhand der Anekdote erzählen, die er, die große Union-Identifikationsfigur, und Arbeit, ebenfalls eine Union-Institution, kurz vorher bei der Pressekonferenz ausgetauscht haben.
„Weißt du noch, Baumi …?“
Als Baumgart auf den Beginn der speziellen Beziehung angesprochen wurde, sagte er: „Da war Christian Arbeit noch in einem anderen Job tätig. Und als er gehört hat, dass ich gekommen bin, hat er gesagt: Scheiße, jetzt holen wir wieder einen alten Sack!“ Arbeit korrigierte: „,So einen abgehalfterten Bundesligaspieler‘, habe ich gesagt.“ Man kennt sich, man neckt sich, man schätzt sich.
Baumgart, 1972 in Rostock geboren, zu DDR-Zeiten dort und in Schwerin fußballerisch sozialisiert, spielte nur zwei Jahre im Trikot von Union, von 2002 bis 2004, sich dabei aber auch in die Herzen der Fans, als Malocher und Kapitän. Einmal Unioner, immer Unioner heißt es hier. Und man kann in diesem Fall schon sagen, dass es eine Liebe ist, die auf Gegenseitigkeit beruht. Baumgart ist Mitglied, er heiratete die Fanshop-Leiterin, seit 2005 gibt es von ihm einen Stadionstein, auf dem sein Name steht. Dazu ein Gruß, der zur Prophezeiung wurde: „Wir sehen uns!“
Beim Wiedersehen soll Baumgart deshalb nicht nur auf ziemlich vielen Fotos landen, sondern auch in etlichen Armen – und in der einen oder anderen Geschichte aus der Vergangenheit. „Weißt du noch, Baumi …?“: Ein Fan reicht ihm seinen Schal und möchte, dass Baumgart sein neues Autogramm über das alte setzt.
Dass sich Vergangenheit und Gegenwart überschreiben, kennt man in Berlin. Aber ob es hier für den Fußballklub Union und die Trainer-Type Baumgart, Unikat und Unikat, zurück in die Zukunft geht oder eher vorwärts in die Vergangenheit, das lässt sich noch nicht sagen an diesem Donnerstagnachmittag. Nur, dass es laut wird. So lange noch trainiert wird, schont Baumgart sich und seine Stimme nicht.
Der Ruf hat gelitten
Von den Berliner Medien ist er indes eher zurückhaltend begrüßt worden. „Keine Zeit für Romantik“ schrieb die „Berliner Zeitung“, „Spielstil vs. Kader“ der „Tagesspiegel“ und: „Baumgart und Union gehen volles Risiko.“ Die Skepsis möchte dieser zuerst mit einer anderen Anekdote abräumen – so wie 2002 einen gewissen Marco Rose im Bundesligaspiel gegen Mainz. Erster Einsatz für Union, erstes Tackling: „Marco Rose war mein Opfer, und danach stand der ganze Block.“
Baumgart ist ein guter Erzähler, aber sein Ruf als Trainer hat ein wenig gelitten durch die Entlassungen in Köln und insbesondere in Hamburg, auch wenn ihn das nicht erkennbar kratzt. „Woanders verlängert man da Verträge“, sagt er mit spitzem Gruß in Richtung HSV. Aber was sich nicht so leicht wegreden lässt: dass der Berliner Kader auf den ersten Blick nicht gemacht scheint für den Fußball, den Baumgart mag: immer offensiv.
Und so steht bei der frisch entflammten Verbindung zwar außer Frage, dass Baumgart die Alte Försterei wie wohl kaum ein anderer „anzünden“ kann, wie er das sagt, aber durchaus in Zweifel, wie – und wie schnell – das mit dem Aufbau einer spielerischen Substanz gehen kann.
Im Kern ist es somit auch die Frage, ob so eine Geschichte auch ein bisschen zu romantisch sein kann. Zumindest scheint es ein Bewusstsein dafür zu geben, dass für Baumgart hier auch ein Balanceakt zu bewältigen ist: einerseits zu seinem Markenkern zu finden, der wie gemacht für den Klub erscheint, sich andererseits aber auch von der Marke, zu der er geworden ist, zu emanzipieren. Wie zu erwarten, kommt am Donnerstag auch die Frage nach der Baumgart-Schiebermütze im Zeughaus, dem Union-Fanshop. Die, sagt Arbeit, werde es nicht geben: „Wir haben kein Maskottchen geholt, sondern einen erfahrenen Bundesligatrainer.“
Ob es eine Rolle spielen wird, dass der, wie Union, aus dem Osten Deutschlands kommt, ist eine andere spannende Frage. Schon allein deshalb, weil bei Union Identität und auch Herkunft so wichtig sind wie bei keinem anderen Bundesligaklub. Erst vor Kurzem gab Klubchef Dirk Zingler der „Berliner Zeitung“ dazu ein großes Interview, das sich als Lob des Ostens las (und auch für manches Kopfschütteln sorgte).
Baumgart, der im Westen einmal nicht als Trainer eingestellt wurde, weil er aus dem Osten kommt, sagt dazu: „Ich weiß, es fällt uns allen schwer, aber wir sind jetzt schon viele Jahre eine Einheit. Und dieses Ost–West, das wird es immer geben, das kann man nicht wegdiskutieren. Aber es wäre schön, wenn wir anfangen, darüber nachzudenken, dass wir eins sind und nicht Ost und West.“
Wenn es in vier Wochen zu einem Wiedersehen mit einem anderen Protagonisten dieser Geschichte kommt, mit Marco Rose und RB Leipzig, wird das in dieser Hinsicht unter einem besonderen Zeichen stehen: weil beide Ostvereine der Bundesliga von einem Trainer aus dem Osten trainiert werden. Wie viel das über den Stand der Einheit erzählt, ist das eine. Das andere, über das man dann wohl schon ein bisschen mehr wird sagen können: ob es im Osten Berlins wirklich so ist, dass etwas zusammenwächst, was zusammengehört.