Jazzfest Berlin: Es ist eine Schlammwalze, ein urbaner Dschungelsound | ABC-Z

Ein Rockmusiker, der es nach oben geschafft hat und schweißnass im Bühnenlicht steht, lässt sich nach jedem Stück von einem schwarzgekleideten Zottel-Diener eine neue E-Gitarre reichen, damit es gleich gut gestimmt weitergeht. Das Ritual ähnelt dem Von-draußen-die-Autotür-aufgehalten-Bekommen, wenn man als Politiker irgendwo vorfährt. Keine Zeit verlieren, wichtig, wichtig.
Im Jazz geht es ohne, wie gerade die famose Mary Halvorson im Haus der Berliner Festspiele gezeigt hat. Sie sitzt (sie steht nicht, damit geht es schon los) mit einer halbakustischen Gitarre auf der Bühne, die bei jedem Stück vollkommen anders klingt. Mal nach Folk, mal nach Hawaii, mal nach Stahl. Sie macht das irgendwie mit den Füßen, drückt da was. Keine Zeit verlieren, wie praktisch.
Mary Halvorson darf als Stammgästin des Berliner Jazzfests gelten, eine Kritik stimulierend, die im Foyer immer wieder zu hören ist: Es würden manche Leute da einfach zu oft spielen. In ihrem Falle ließe sich entgegnen: Sie kann da gar nicht oft genug spielen. Denn die zierliche Mittvierzigerin aus Brooklyn hat sich über die vergangenen Jahre mit stupender Virtuosität und kompositorischem Esprit in die höchsten Höhen des Genres gespielt. Wer wissen möchte, wie spektakulär heute eine Jazzgitarre daherkommen kann: einfach etwas von Mary Halvorson auflegen. Ein Jazzfestival, dem das Testosteron zu viel wird: einfach mal Mary Halvorson einladen. Sie rockt das Haus.
Dieses Mal war sie da mit ihrem fantastisch eingespielten Amaryllis Sextett: Gitarre, Trompete, Posaune, Vibrafon, Kontrabass, Schlagzeug. Und wenn Sie jetzt fragen: Ja, was macht sie denn für eine Musik? – dann ist das nicht so leicht zu beantworten. Sie speist sich aus der Geschichte, geht auf die Überholspur, vertauscht ein paar Rollen, hat einen ausgeprägten Sinn für Form wie für das Brechen von Form. Sie versteht sich auf Pointen. In der Lobby gibt ein Hörer zu bedenken: Ihre Musik sei etwas kühl. Ja, das stimmt. So heiß-kühl, so klug-kühl, so frei von Kalkül.
Nach dem Set am Samstag findet sie Zeit für ein Gespräch, bester Dinge. Da muss nun, um sie etwas runterzubringen, das sehr ernste Festivalmotto in Anschlag gebracht werden, ein Zitat ihres amerikanischen Gitarristenkollegen Marc Ribot: Where Will You Run When the World’s on Fire? Wohin rennen, wenn die Welt brennt? Wir beziehen es mal nicht aufs Klima, sondern auf die Vereinigten Staaten und ihren Goldkönig. Wie kommen die Musiker damit klar?
Mary Halvorson: “Die Lage ist so düster, dass schwer zu sagen ist, wie schlecht sie wirklich ist. Es fällt schwer, sie überhaupt zu verstehen.” Dann sprudelt sie los: die Kürzungen der ohnehin geringen Fördermittel für Musik, die Zensur, die Einschnitte beim Public Radio, die Übernahme des renommierten Kennedy Center durch den kulturlosen Präsidenten sowie die absurden Hürden, auf die europäische Musiker neuerdings bei der Einreise in die USA treffen, weshalb einige gemeinsame Projekte bereits abgesagt werden. “All das.”
Wie steht es um den Widerstand? Kann der Jazz, der einst in den USA von Verschleppten und Unterdrückten erfunden wurde, gegen die aktuelle Gewalt von oben helfen? “Mir ist die Musik eher ein Trost”, sagt Mary Halvorson, “eine Art, eine Stunde zu verbringen, ohne an dieses ganze Zeug zu denken.” Sie rutsche wieder in die Haltung, zu der sie vor ein paar Jahren unter Corona gefunden habe, als man dachte, dass es schlimmer nicht mehr werden könne: im Moment zu leben und nicht über den nächsten Monat nachzudenken. “Wer weiß, ob wir in zwei Jahren noch touren können? Also genieße ich es jetzt.”





















