Politik

Hat Papst Leo XIV. nicht mehr der Antisemitismus zu sagen? | ABC-Z

Leo XIV. hat mehr als nur einen Scherbenhaufen von seinem Vorgänger geerbt. Aber besonders groß ist der Schaden, den Franziskus im Verhältnis zu den Juden angerichtet hat. Seine einseitige Parteinahme für die Palästinenser und das weitgehende Schweigen zum Hamas-Terror korrigierte Leo zwar rasch.

Eines fällt dennoch auf: Der Brückenbauer aus den Vereinigten Staaten hat bisher nicht nur auf den Versuch verzichtet, dem Dialog mit dem Judentum neues Leben einzuhauchen. Er hat es auch vermieden, mehr als eine nur formelhafte Verurteilung des sprunghaft gewachsenen Antisemitismus auszusprechen.

Ungenutzte Steilvorlage

Dabei hätte es einen geradezu idealen Anlass dafür gegeben: Die katholische Kirche erinnert in diesem Herbst an ein Dokument, das ihre Beziehungen zum Judentum so nachhaltig verändert hat wie kein anderes: die Erklärung zu den nichtchristlichen Reli­gionen mit dem lateinischen Titel „Nostra Aetate“ (In unserer Zeit), verabschiedet vor sechzig Jahren, am 28. Oktober 1965, in den letzten Tagen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Zum ersten Mal verurteilte die Kirche damit den christlichen Antijudaismus.

Der infame Vorwurf, alle Juden seien Gottesmörder, weil Juden an der Kreuzigung Jesu Christi schuld gewesen seien, lieferte annähernd zweitausend Jahre eine theologische Rechtfertigung für Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung der Juden – und einen Nährboden für den völkermörderischen Antisemitismus der Nationalsozialisten. Noch nie zu lesen war in einem lehramtlichen Dokument zuvor auch, dass das Christentum jüdische Wurzeln habe und in anderen ­Religionen ebenfalls „Wahres und Heiliges“ zu finden sei.

Aber Leo ließ diese Steilvorlage ungenutzt. Seine Ansprache vor Vertretern des Judentums und anderer Weltreligionen am Jubiläumstag ging kaum über eine Inhaltsangabe von Nostra Aetate hinaus. In einer Generalaudienz zitierte er die zentrale Aussage des Dokuments zum Antisemitismus: Die Kirche beklage „alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Mani­festationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und irgend ­jemandem gegen die Juden gerichtet haben“.

Rühmlicher deutscher Sonderweg

Aber wo sind heute die Klagen führender Kirchenleute über einen Judenhass, wie es ihn in dieser Massivität seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hat? Wo sind die Solidaritäts­bekundungen mit den jüdischen Gemeinden? Müssten an diesem Maßstab gemessen nicht der Papst und die katholischen Bischöfe in der ersten Reihe stehen, wenn es darum geht, den Juden in aller Welt gegen Hass und Gewalt beizustehen?

Einen Sonderweg – in diesem Fall einen rühmlichen – gingen die katholischen Bischöfe in Deutschland, die im September in ihrer Erklärung zum Gazakrieg klare, wenn auch nur wenige Worte zum Antisemitismus fanden. Leo beließ es nun bei Aussagen, die nach pflichtschuldiger Routine klangen: Alle seine Vorgänger seit Nostra Aetate hätten den Antisemitismus mit deutlichen Worten verurteilt. Auch er bekräftige, dass die Kirche Antisemitismus nicht toleriere und bekämpfe.

Der Jüdische Weltkongress bedankte sich zwar selbst dafür schon. Aber diese dürre päpstliche Aussage will nicht recht passen zu den Wortgirlanden, die Bischöfe und Theologen für das christlich-jüdische Verhältnis in ihren Sonntagsreden flechten. Von den Juden als „älteren Brüdern“ oder „Vätern im Glauben“ ist da die Rede.

Ungeklärtes Verhältnis zum Staat Israel

Wer sich jedoch theologisch selbst zum nächsten Verwandten der Juden erklärt, sich dann aber wie ein unbeteiligter Passant verhält, sobald der Staat Israel ins Spiel kommt, hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Diese Diskrepanz ist die Folge des bis heute ungeklärten theologischen Verhältnisses der Kirche zum Staat Israel. Diplomatisch hat der Vatikan ihn erst 1993 anerkannt. Das heißt keineswegs, dass nicht auch die Kirche Israel und seine schweren Vorwürfen ausgesetzte Regierung kritisieren darf.

Es ist offenkundig: Die antisemitische Welle infolge des Gazakriegs speist sich nicht aus einem christlichen Antijudaismus. Aber zu sagen, es handle sich vor allem um einen israelbezogenen Antisemitismus aus dem muslimischen und politischen Raum und die Kirche sei deshalb nicht zuständig, wäre eine faule Ausrede. Im Übrigen spricht wenig dafür, dass Katholiken völlig immun gegen Anti­semitismus geworden sein könnten.

Der Papst und die Weltkirche befinden sich zweifellos in einem Dilemma. Beide haben zu bedenken, welche Auswirkungen eine Stellungnahme gegen Antisemitismus auf die christlichen Minderheiten in muslimisch geprägten Staaten haben könnte. Aber das darf nicht dazu führen, dass sie nicht deutlicher ihre Stimme gegen den Judenhass erhebt.

Solange die Kirche darauf verzichtet, verfestigt sich ein Eindruck, der die Jubiläumsstimmung trübt: Die katholische Kirche klopft sich für sechzig Jahre katholisch-jüdischen Dialog selbstzufrieden auf die Schulter, meidet aber den Schulterschluss mit den bedrängten Juden von heute.

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