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Finals in Dresden: Die berauschende Vielfalt des Sports | ABC-Z

Rosalie Hausdorf rennt und rennt und gibt nicht auf. Auch nicht, als die Glocke nur noch für sie zur letzten Runde läutet. Die meisten anderen Läuferinnen verschnaufen schon im Ziel, als die Münchnerin ihre zwölfte Stadionrunde läuft. An der Ziellinie steht Lea Meyer, die neue deutsche Meisterin im 5000-Meter-Lauf. Sie fordert das Publikum auf, auch die letzte Konkurrentin auf der Strecke bis zum Schluss anzufeuern. Aber das muss sie gar nicht.

Die Menschen sitzen längst nicht mehr auf ihren Plätzen. Sie waren aufgesprungen, als Lea Meyer auf den finalen 100 Metern zum Schlussspurt ansetzte und Elena Burkard und Konstanze Klosterhalfen hinter sich gelassen hat. Sie klatschen und jubeln weiter, bis Rosalie Hausdorf erschöpft ins Ziel kommt, zwei Minuten nach Lea Meyer. Die ganze Zeit über wartet die Siegerin dort auf die junge Münchnerin, um mit ihr abzuklatschen.

Es ist Freitag, der zweite Tag der Finals, der deutschen Meisterschaften in 20 Sportarten. Noch sind nicht alle 10.400 Plätze im Heinz-Steyer-Stadion besetzt. An den folgenden Tagen wird es voll sein. Während die Frauen ihre Runden laufen, werfen die Zehnkämpfer ihre Speere. Tim Nowak schleudert das Gerät auf eine neue persönliche Bestweite. Er gewinnt den Wettkampf später, den letzten seiner Karriere.

Dresden muss sich nicht anpassen

Trotz der offenen Architektur des modernisierten Stadions – lediglich Haupt- und Gegentribüne sind überdacht – entsteht eine mitreißende Stimmung im Oval, von der nicht nur Lea Meyer begeistert berichten wird. Die meisten Athletinnen und Athleten haben noch nie Wettkämpfe vor Tausenden Menschen erlebt, mit einer so großen medialen Aufmerksamkeit. Was im Leichtathletik-Stadion in der Dresdner Friedrichstadt passiert, zieht sich bis Sonntag, dem Schlusstag der Finals, beiderseits der Elbe entlang.

Zum ersten Mal ist Dresden Austragungsort dieses „Multi-Sportevents“. Aber die sächsische Landeshauptstadt muss sich in diesen vier Tagen nicht anpassen, muss nicht versuchen, wie Paris zu sein. Sie erschafft ihr ganz eigenes olympisches Flair. Die französische Hauptstadt begeisterte im vergangenen Jahr bei den Sommerspielen damit, ihre Sehenswürdigkeiten bei den Wettkämpfen in Szene zu setzen. Im Großen geschah dort, was sich in Dresden im Kleinen erleben lässt. Sogenannte Randsportarten rücken ins Stadtzentrum. Die allermeisten Wettkämpfe kann man vor Ort kostenlos miterleben. Eine Metro braucht niemand an der Elbe, alle Sportstätten liegen nahe beisammen. Und die Menschen kommen in Scharen.

Hohe Spannung: Auf dem Theaterplatz vor der Semperoper fliegen die Pfeile.dpa

Das Ufer gegenüber der Leichtathletik-Arena ist Schauplatz der Wassersport­arten. Direkt am Fluss drängen sich die Zuschauer, Fahrräder liegen im Gras, im Startbereich machen sich zwei Athletinnen bereit. Ein Teppich ist bis hinunter zur Wasserkante ausgerollt. Als das Start­signal ertönt, sprinten die beiden Frauen etwa 30 Meter zum Fluss, springen in ihre schmalen Boote, die von Helfern fest­gehalten werden, rudern insgesamt etwa 125 Meter die Elbe rauf und runter, einmal mit der, einmal gegen die Strömung, navigieren dabei um zwei Bojen herum, springen aus den Booten heraus und sprinten zurück über den Teppich. Knapp anderthalb Minuten brauchen sie dafür. Sophie Leupold schmeißt sich ins Ziel, Julia Tertünte ist gleichauf. Das Zielfoto muss entscheiden, welche von beiden die Bronzemedaille im Coastal Rowing gewonnen hat. Am Ende teilen sich die beiden den Sieg im kleinen Finale.

Im Hintergrund ragt die historische Skyline auf

„Sophieee! Sophieee!“ ruft eine kleine Gruppe im Publikum immer wieder. Die Athletin aus dem benachbarten Pirna erkennt bekannte Gesichter und kommt angelaufen, rosa Schlappen an den Füßen, inzwischen wieder zu Atem gekommen. Leupold lässt sich drücken und beglückwünschen. „Werden wir die ganze Zeit gefilmt?“, fragt sie und lacht, als sie die Kamera neben sich bemerkt. Das ZDF hat die Entscheidungen im Coastal Rowing live übertragen, inklusive Interviews mit den Medaillengewinnern. Die actionreiche, kurzweilige Disziplin Beach Sprint wird 2028 in Los Angeles erstmals Teil der Olympischen Spiele sein. Anstelle des feinen Sands in Long Beach muss in Dresden das Elbufer herhalten. Immerhin, die Muscheln im Schlamm erwecken ein klein wenig Pazifik-Strand-Gefühl. Im Hintergrund, über der Augustusbrücke, ragt die historische Skyline aus Zwinger, Semperoper, Frauenkirche und Brühlscher Terrasse auf.

15 Meter in fünf Sekunden: Beim Speedklettern geht es hoch her.
15 Meter in fünf Sekunden: Beim Speedklettern geht es hoch her.dpa

Auf dem Weg zu den Kanu-Wettkämpfen in der Hafencity, wenige Kilometer die Elbe hinab, sind zwei Männer mit dem Fahrrad unterwegs. Sie beobachten, wie der Teppich eingerollt und der Start­bereich abgebaut wird. „Da haben sie eben dieses Neue gemacht, dieses Rowing“, sagt einer und deutet zum Fluss. Die Finals bringen nicht nur die besten deutschen Athleten in Bewegung. Auch die Dresdner machen mit, zu Fuß, auf dem eigenen Fahrrad oder auf Mieträdern sind sie an der Elbe unterwegs, eilen von einem Fi­nale zum nächsten. Auf der Wiese am Kongresszentrum üben junge Männer und Frauen Spielzüge mit einem Football. Menschen stehen an den Straßen und feuern die Triathleten an, stürmen die Tri­büne beim Bogenschießen, drängen sich vor der Kletterwand an der Frauenkirche, sodass es kein Durchkommen mehr zur 3×3-Basketball-Arena auf dem Neumarkt gibt.

Vor dem Anpfiff der Finals im Siebener-Rugby gibt es am Einlass der Teamsport-Arena Blockabfertigung wie sonst nur in den Sommerferien am Tauerntunnel: wegen Überfüllung zwischenzeitlich geschlossen. Die Tribüne ist voll besetzt. 3000 Zuschauer seien da für die Endspiele der Männer und Frauen, sagt der Stadionsprecher. Schon auf dem Weg zur Arena ist unverkennbar, welche Sportart hier gespielt wird: Athletinnen mit muskulösen Oberschenkeln kommen den Fans entge­gen, die Haare zu Zöpfen geflochten, Grasflecken auf den Knien, Striemen an den Schienbeinen.

Hier geht es um Körperkontakt. Beim Lacrosse nebenan geht es filigraner zu. Es braucht viel Geschick, das etwa tennisballgroße Spielgerät mit dem Kescher zu fangen, der am Ende des Schlägers befestigt ist. „Die schnellste Sportart auf zwei Beinen“ steht auf den Bannern an der Spielfeldumzäunung. Bei den Frauen wird Lacrosse mit „leichtem Körperkontakt“ gespielt, das erfährt, wer sich die bedruckten Klatschpappen genauer anschaut, die die Ordnerinnen am Eingang verteilen. Der Deutsche Lacrosse Verband trommelt für seine Sportart, die 2028 erstmals seit 1908 wieder olympisch sein wird. Das gibt Auftrieb.

Die Bogenschützen sind es gewohnt, dass ihre Sportart alle vier Jahre zu den Sommerspielen im Fernsehen gezeigt wird. Die Deutschen gehören schließlich immer zu den Medaillenfavoriten. Wo die Pfeile in Paris auf der Esplanade des Invalides flogen, ist es in Dresden der Theaterplatz vor der Semperoper. Im Bronzefinale der Frauen treten die Teams der Ham­burger Bogenschützengilde und des BSV Moischt an. Der Stadionsprecher ist gut vorbereitet, erklärt den Ablauf und wo genau eigentlich Moischt liegt (in der Nähe von Marburg).

Die holprige Präsentation der Teams (die Kamera zeigt zuerst nicht das Trio, das der Stadionsprecher vorstellt) sorgt nur kurz für Verwirrung unter den fachkundigen Zuschauern, dann steht der Sport im Mittelpunkt. Ein Stechen muss über den Sieg entscheiden, noch einmal drei Pfeile pro Team, jetzt wird Frau-gegen-Frau geschossen. Die Menschen drängen sich im Tribünenaufgang, ver­suchen, den vorbeifliegenden Pfeilen mit den Augen zu folgen. Vergeblich. Zum Glück gibt es die Videoleinwand, auf der die Zielscheiben in Großaufnahme zu sehen sind. Die Schützinnen haben ihre Fanklubs dabei. Ihre Fahnen wehen auf dem obersten Rang. Dahinter ragt das Haupt des Sächsischen Königs Johann auf seinem Pferd empor. Die Reiterstatue thront auf dem Platz vor der Semperoper.

Nur wenige Gehminuten sind es von dort bis zur Frauenkirche, von wo weiterer Jubel zu hören ist. Vor dem Gotteshaus ragt die Kletterwand vertikal in die Höhe. Knapp fünf Sekunden brauchen die besten deutschen Speedkletterer, um die 15 Meter zu überwinden. Geschwindigkeit und Präzision sind alles in diesen vier Tagen der Finals. Es ist eine berauschende, beglückende Hatz durch die Vielfalt des Sports.

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