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Wieso Friedrich Merz die Linke noch brauchen wird | ABC-Z

Die Bundestagswahl hat die Mehrheitsverhältnisse deutlich verschoben. Die einst Große Koalition ist nicht mehr groß. Nicht nur bei Grundgesetzänderungen muss sie neben den Grünen auch die Linken ins Boot holen. Für Friedrich Merz könnte das zum Drahtseilakt werden.

Für Gregor Gysi war es ein echter Genuss, das hat man ihm angemerkt, als er Ende März die konstituierende Sitzung des neu gewählten Bundestages als Alterspräsident mit einer ausführlichen, manche würden sagen: einer ausufernden Rede eröffnen durfte. Vermutlich lag der Genuss vor allem darin, dass auch die ihm zuhören mussten, die sonst gerne mal das Plenum verlassen oder mit Fraktionskollegen Kaffee trinken, wenn ein Linker am Pult steht. Womit wir bei der Union wären.

Demonstrative Lektüre. Der CDU-Abgeordnete Sepp Müller liest im Buch "Die Täter sind unter uns", während Gregor Gysi spricht.

Demonstrative Lektüre. Der CDU-Abgeordnete Sepp Müller liest im Buch “Die Täter sind unter uns”, während Gregor Gysi spricht.

(Foto: picture alliance / dts-Agentur)

Denn für deren Abgeordnete war es so gar keine Freude, dem Linken-Urgestein lauschen zu müssen. Genervte Minen bei den Abgeordneten von CDU und CSU. “Puh, wann ist es endlich vorbei?”, wird man sich in den Reihen der Union zugeflüstert haben, während Gregor Gysi über die Umsatzsteuersätze für Weihnachtsbäume und Karl Marx schwadronierte. Ein CDU-Abgeordneter aus Sachsen-Anhalt stöberte demonstrativ in dem Buch “Die Täter sind unter uns” des Historikers Hubertus Knabe. Eine nicht gerade freundliche Erinnerung an die SED-Vergangenheit der Linken und von Gysi ganz persönlich – er war letzter Parteivorsitzender der DDR-Staatspartei.

In diesem Moment war sie wie mit Händen zu greifen: die Abneigung vieler in der bürgerlich-konservativen Union gegenüber der Linkspartei, die das Wirtschaftssystem überwinden will, die den Sozialismus will. Doch genau diese Linke wird die kommende Koalition noch brauchen. Sogar ein Bundeskanzler Friedrich Merz wird früher oder später auf sie angewiesen sein, vorausgesetzt die Brandmauer zur AfD hält. Denn für Entscheidungen, die nur mit einer Zweidrittelmehrheit zustande kommen können, müssen künftig neben Union, SPD und Grünen auch Linke oder AfD zustimmen.

Da gibt es aber ein Problem: Die Union hat sich diese Möglichkeit mit einem Unvereinbarkeitsbeschluss selbst zugemauert. Seit 2018 gilt der Satz: “Die CDU Deutschlands lehnt Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit sowohl mit der Linkspartei als auch mit der Alternative für Deutschland ab.” Was “ähnliche Formen der Zusammenarbeit” genau sind, wird seitdem auf und ab diskutiert.

Gemeinsames Abstimmen sei keine Zusammenarbeit, hatte Merz Ende Januar gesagt. Das war, nachdem sein Fünf-Punkte-Plan zur Migration im Bundestag nur mit AfD-Stimmen eine Mehrheit erhalten hatte. Deren Zustimmung erneut in Kauf zu nehmen, das wird Merz’ neuer Koalitionspartner, die SPD, nicht mitmachen. Das ist im Koalitionsvertrag auch ausdrücklich so vereinbart: “Die Koalitionspartner schließen auf allen politischen Ebenen jede Zusammenarbeit mit verfassungsfeindlichen, demokratiefeindlichen und rechtsextremen Parteien aus. Dies betrifft im Parlament unter anderem gemeinsame Anträge, Wahlabsprachen oder sonstige Formen der Zusammenarbeit.” Bleibt also nur die Linke übrig.

Änderungen des Grundgesetzes

Nötig wäre deren Zustimmung in den kommenden vier Jahren immer dann, wenn die Verfassung geändert werden soll. Dass dies passiert, ist alles andere als unwahrscheinlich: In 17 der vergangenen 20 Legislaturperioden des Bundestages wurde das Grundgesetz geändert, im Schnitt 3,45 Mal pro Wahlperiode.

Nicht jede Änderung wird so hitzig diskutiert wie das Schuldenpaket von Union und SPD Ende März. Mitunter muss der Gesetzgeber auch profane Dinge neu regeln, zum Beispiel, dass beschlossene Gesetze nicht mehr in Papierform im Bundesgesetzblatt veröffentlicht werden müssen, sondern digital. Auch für diese Entscheidung brauchte es 2022 eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat.

Grundgesetzänderungen sind zu Beginn einer Legislaturperiode häufig gar nicht absehbar. So war es beim Sondervermögen für die Bundeswehr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine oder bei den pandemiebedingten Verfassungsänderungen. Die Corona-Hilfen, Scholz’ berühmte Bazooka, finanzielle Entlastungen der Länder – all das hätte es ohne Zweidrittelmehrheit nicht gegeben, auch keinen Digitalpakt für die Schulen.

Reform der Schuldenbremse

Für die kommenden Jahre haben Union und SPD eine Verfassungsänderung schon vereinbart. Im Koalitionsvertrag halten sie fest: “Es wird eine Expertenkommission eingesetzt, die einen Vorschlag für eine Modernisierung der Schuldenbremse entwickelt, die dauerhaft zusätzliche Investitionen in die Stärkung unseres Landes ermöglicht. Auf dieser Grundlage wollen wir die Gesetzgebung Ende 2025 abschließen.”

Christian Görke war von 2014 bis 2019 Finanzminister und stellvertretender Ministerpräsident von Brandenburg. Jetzt managt er die Linksfraktion im Bundestag. Christian Görke war von 2014 bis 2019 Finanzminister und stellvertretender Ministerpräsident von Brandenburg. Jetzt managt er die Linksfraktion im Bundestag.

Christian Görke war von 2014 bis 2019 Finanzminister und stellvertretender Ministerpräsident von Brandenburg. Jetzt managt er die Linksfraktion im Bundestag.

(Foto: picture alliance/dpa)

Der Bruch des CDU-Unvereinbarkeitsbeschlusses ist im Koalitionsvertrag damit indirekt angelegt. Denn für eine solche Grundgesetzänderung werden nicht nur die Stimmen, sondern auch Gespräche mit der Linksfraktion nötig sein. Sie wird nicht nur die Hand heben, sondern – wie die Grünen – Einfluss nehmen wollen auf die Ausgestaltung der reformierten Schuldenbremse.

Die Linken wissen, dass Merz sie braucht. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion, Christian Görke, sagt ntv.de: “Der Unvereinbarkeitsbeschluss der Union ist aus unserer Sicht realitätsfremd und antiquiert. Es ist überfällig, dass die Union ihre Haltung zur Linken überdenkt.”

In der Union wird man hingegen wenig Lust haben, sich für Änderungen des Grundgesetzes neben der SPD noch mit zwei weiteren Parteien einigen zu müssen, die politisch links von ihr stehen. Schon das noch vom alten Bundestag verabschiedete Schuldenpaket haben viele Unionsabgeordnete nur mit Bauchschmerzen mitgemacht. Gut möglich ist daher, dass die Union die den Sozialdemokraten versprochene erneute Schuldenbremsenreform in der Kommission versenkt. Wie das so ist mit Kommissionen. Dazu passt, dass Philipp Amthor Anfang April im ZDF sagte: “Ich finde, es gibt keinen weiteren Reformbedarf bei der Schuldenbremse.”

So dürften es viele in der Union sehen. Doch es gibt auch andere Stimmen. “Die CDU/CSU wird mit den Linken über eine Reform der Schuldenbremse sprechen müssen”, sagte Daniel Günther, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, sprach dem “Tagesspiegel”. Und weiter: “Man darf den Menschen keinen Scheiß erzählen, sondern muss aussprechen, was ist. Jeder Bürger und jede Bürgerin kann sich selbst ausrechnen, welche Mehrheiten für eine weitere Grundgesetzänderung nötig wären.”

Wie sieht das der engste Kreis um Merz? Das bleibt unklar. Eine Anfrage von ntv.de an den Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der Union und Merz-Vertrauten, Thorsten Frei, blieb unbeantwortet. Lieber nicht groß drüber reden, scheint die Devise zu sein. Doch Merz, Frei und Co. sollten sich lieber früher als später darüber klar werden, wie sie mit der Linken verfahren wollen. Zumal sie bei den Verhandlungen mit den Grünen über das Schuldenpaket gemerkt haben, wie teuer es ihnen zu stehen kommen kann, wenn sie Verhandlungspartner düpieren, auf die sie angewiesen sind.

Wahl von Verfassungsrichtern

Ein anderes Thema duldet dagegen keinen Aufschub und steht weit oben auf der Tagesordnung des neu gewählten Parlaments: die Wahl von Verfassungsrichtern. Auch hier geht nichts ohne Zweidrittelmehrheit. Schon zum 30. November 2024 ist die Amtszeit des Richters Josef Christ ausgelaufen. Im alten Bundestag fand Friedrich Merz’ Vorschlag für eine Nachbesetzung mit Robert Seegmüller, Richter am Bundesverwaltungsgericht, keine Mehrheit. Im Sommer scheiden voraussichtlich zwei weitere Karlsruher Richter aus, über deren Nachfolger ebenfalls der Bundestag entscheidet.

Doch es gibt einen Trick. Wenn sich Union, SPD, Grüne und Linke im Bundestag nicht auf einen Kandidaten oder eine Kandidatin einigen, kann die Wahl zur Not an den Bundesrat abgegeben werden. Das ist erst seit wenigen Monaten möglich, ironischerweise infolge einer Grundgesetzänderung vom Dezember 2024. Damit sollte eine Blockade des Bundestages verhindert werden, vor allem mit Blick auf den wachsenden Einfluss von extremen Parteien. Wenn sich innerhalb von drei Monaten keine Mehrheit für einen Namen findet, geht das Wahlrecht automatisch an den Bundesrat über. Dieses Notmittel – geschaffen, um der AfD keinen Einfluss bei der Besetzung des Verfassungsgerichts zu geben – muss nun vielleicht schon jetzt zum Einsatz kommen.

Dennoch: Ein Abtreten der Wahl an den Bundesrat wäre auch ein Zeichen der Ohnmacht, ja der Handlungsunfähigkeit. Daher wird der Druck auf die Union zunehmen, mit der Linken zu sprechen und sich zu einem gemeinsamen Vorschlag durchzuringen. Aber eine Einbahnstraße ist das nicht. Auch die Linke muss sich auf die Union zubewegen. Der maximale Konfrontationskurs gegenüber Merz, den die Partei im Wahlkampf als Türöffner für den Faschismus hinstellte, wird für gemeinsame Gespräche nicht der richtige Tonfall sein. Benjamin Höhne, Politikwissenschaftler an der TU Chemnitz, sagt: “Die Linke muss sich entscheiden, ob sie Politik mitgestalten und dafür Kompromisse eingehen kann oder sich immer nur mit einer Oppositionsrolle zufriedengibt.”

Es wird teuer für Merz

Noch einmal zurück zum 25. März 2025, zur konstituierenden Sitzung des Bundestages, an der sich so wunderbar erzählen lässt, wie weit der Weg für Union und Linke ist. Nach der Rede von Alterspräsident Gysi wurden die Parlamentspräsidentin und die Bundestagsvizepräsidenten gewählt. Die Linke schickte mit Bodo Ramelow den wahrscheinlich Mittigsten unter ihnen ins Rennen. Zehn Jahre lang war er Ministerpräsident von Thüringen, als Präsident des Bundesrates zwischenzeitlich sogar der vierte Mann im Staat. Ramelow ist praktizierender Christ und in vielen Punkten kaum linker als mancher Sozialdemokrat. 316 Stimmen brauchte er, 318 Stimmen hat er bekommen.

Gerade so hat es gereicht für Ramelow. Die Gesichter seiner Fraktionskollegen zeigten: Viele Linke waren reichlich bedient. Dass die meisten Unionsabgeordneten vermutlich nicht für Ramelow gestimmt haben, wird man sich in der Linksfraktion gemerkt haben. Für Friedrich Merz dürfte es also teuer werden.

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