Christopher Street Day: „Das Schlimme ist, dass man wieder Angst haben muss“ – Politik | ABC-Z

Es war 15 Uhr, als die beiden Welten dann doch fast aufeinanderprallten. Hinter einigen Absperrgittern hatten sich in Marzahn-Mitte in Berlin rund 50 junge Männer und Frauen versammelt. Sie trugen Sweatshirts von Lonsdale oder schwarze T-Shirts mit dem Aufdruck „Deutsche Jugend voran“, eine Organisation jugendlicher Neonazis. Es wurden Sprüche skandiert wie „Ob Ost, ob West – nieder mit der roten Pest“, einer der Ordner sprach davon, dass „die anderen ihre Pädophilie ausleben“ dürften.
Die anderen, das waren die vielleicht 1000 Teilnehmer des Christopher Street Days (CSD) im Berliner Ortsteil Marzahn an diesem Samstag. Manche waren in Lederkluft oder in einem Bärenkostüm zu dem queeren Umzug gekommen, viele einfach nur in T-Shirt und Jeans. „It’s ok to be gay“, es ist in Ordnung, schwul zu sein, stand auf Schildern, die sie hochhielten. Oder auch nur „Sei Du selbst“. Kurz vor dem Zusammentreffen mit den Kontrahenten hinter den Absperrgittern mahnte einer der Redner des CSD: „Wir lassen uns nicht provozieren. Wir ignorieren die. Das wird schon gut gehen.“
Es sind Szenen eines Kulturkampfes, der an diesem Samstag gleich dreifach stattfand. Außer in Marzahn kam die queere Community in Potsdam zum dritten Mal zur Fahrrad-Pride zusammen; in Eberswalde starteten rund 2000 Mitglieder und Sympathisanten auf dem Bahnhofsvorplatz die CSD-Parade. Sie ist der Abschluss der „queeren Wochen“, die in der Kreisstadt nahe der polnischen Grenze Anfang Juni begonnen hatten. Doch die ursprünglich einmal als festlich gedachten Veranstaltungen sind längst zu Demonstrationen des Trotzes geraten.
Erst am vergangenen Sonntag war in Bad Freienwalde, zwanzig Kilometer von Eberswalde entfernt, ein Sommerfest für Vielfalt überfallen worden. Gegen Mittag stürmten dort ungefähr ein Dutzend Vermummter den Marktplatz, auf den die Initiative „Bad Freienwalde ist bunt“ eingeladen hatte. Mit Holzlatten und besonders gehärteten Handschuhen bewehrt, verletzten sie zwei Teilnehmer des Festes mit Schlägen ins Gesicht. Ermittlungen bei einem ersten Tatverdächtigen sollen Verbindungen zur neonazistischen Kleinstpartei „Der Dritte Weg“ ergeben haben.
Gewaltbereite Rechtsextremisten versuchen Feste für Vielfalt zu stören oder gar zu verhindern
Der Verdacht passt in ein Muster, das sich seit mehr als einem Jahr wiederholt: Junge und äußerst gewaltbereite Rechtsextremisten versuchen Feste für Vielfalt oder queere Paraden zu stören oder gar zu verhindern. Beim CSD in Bautzen konnten im vergangenen Jahr rund 700 teils rechtsextreme Gegendemonstranten ungehindert hinter den vielleicht 1000 Paradierenden hinterherlaufen; in Gelsenkirchen ist der CSD Mitte Mai wegen der „abstrakten Bedrohungslage“ abgesagt worden. Und in Regensburg, wo der CSD im Juli stattfinden soll, ist die Strecke bereits verkürzt worden. So sei sie besser zu schützen, heißt es bei der Polizei. „Die Nazis versuchen uns den Platz streitig zu machen“, sagte Max Armonies, einer der Initiatoren der queeren Wochen in Eberswalde, kürzlich der taz.
Die militanten Störer treffen dabei offenbar die Stimmung in größeren Teilen der Bevölkerung. Die AfD Eberswalde, die bei der Bundestagswahl über 30 Prozent der Stimmen gewonnen hatte, versuchte Anfang Juni das Aufhängen von Regenbogenflaggen an öffentlichen Gebäuden zu verhindern. Ihr Antrag „Schwarz-Rot-Gold ist bunt genug“ scheiterte an der Mehrheit der Stadtverordneten. Dafür veranstaltete sie an diesem Samstag auf dem Marktplatz in Eberswalde eine Gegenveranstaltung zur CSD-Demo. Titel: „Keine Frühsexualisierung von Kindern und gegen Indoktrination.“
Angesichts der zunehmenden Gewalt gegen CSD-Paraden oder Festen für Vielfalt nahm an diesem Samstag auch Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke, SPD, Stellung zu den Übergriffen. „Wir müssen die Menschen schützen, die sich für Freiheit und Demokratie engagieren“, forderte er auf dem Landesparteitag der SPD. Doch vor Ort fühlen sich die Aktivisten immer wieder von den Behörden verlassen.
Manche CSD-Veranstalter schicken inzwischen die eigenen Ordner auf Schulungen zur Gefahrenabwehr
So sprach Ralf Lehmann, CDU-Bürgermeister von Bad Freienwalde, nach dem Überfall lediglich von einer „Störung“. Im Interview mit dem RBB erklärte er: „Das sind Sachen, wo ich sage: Wer will wen denn jetzt verurteilen und wofür?“ Dabei dokumentierten nicht nur Augenzeugen, sondern auch Videoaufnahmen das brutale Vorgehen der vermummten Störer. Zugleich hatte es die Polizei trotz mehrfacher Warnungen versäumt, das Sommerfest ausreichend abzusichern. Manche CSD-Veranstalter schicken deshalb inzwischen die eigenen Ordner auf Schulungen zur Gefahrenabwehr.
An diesem Samstag schien es jedoch, dass sich die Polizei an die neue Bedrohung angepasst hat. Bereits Mitte der Woche hatte das Polizeipräsidium Brandenburg Ost erklärt, sie seien für den CSD in Eberswalde „stark aufgestellt“. Am Samstag standen dann am Bahnhofsplatz nicht nur an die 20 Einsatzwagen, selbst Brandenburgs Polizeipräsident Oliver Stepien war vor Ort.
Auch in Marzahn gab es ein großes Polizeiaufgebot. Der Umzug wurde vorne und hinten von mehreren Mannschaftswagen begleitet, in der Parade selbst waren immer wieder Vierergruppen von Polizisten unterwegs. Außerdem hatten die Beamten an der Stelle, an der der Zug auf die jugendlichen Neonazis treffen würde, Polizeifahrzeuge als Sperre aufgebaut. So war ein direktes Zusammentreffen verhindert worden.
„Wir haben uns schon gewisse Rechte erkämpft, die dürfen wir nicht so einfach hergeben“
Mehrere Teilnehmer des CSD sagten, dass sie vor allem aus Solidarität gekommen seien. So wie auch Berlins Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe, SPD, oder Vertreter von Grünen und Linken. Ein vielleicht 50-jähriger Mann in schwarzem Muscle-Shirt und beiger Cargo-Hose erzählte, dass er in der Nähe wohne. In den Jahren davor habe er dem Umzug höchstens mal von seinem Fenster aus zugeschaut, diesmal aber wollte er dabei sein. „Wir haben uns schon gewisse Rechte erkämpft, die dürfen wir nicht so einfach hergeben.“
Er ist gemeinsam mit seinem Freund gekommen, beide wirken gut gelaunt. Doch die Stimmung auf der Parade, die sei natürlich inzwischen gedämpft, meint der Mann: „Das Schlimme ist, dass man wieder Angst haben muss.“