Betroffener über Suizidprävention: “Ich hätte nie gedacht, dass sich meine Frau das Leben nimmt” | ABC-Z

Interview | Suizidprävention
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“Ich hätte nie gedacht, dass sich meine Frau das Leben nimmt”
Wenn sich Menschen das Leben nehmen, bleiben Angehörige mit vielen Fragen zurück. Wie bekommen sie Hilfe, wie lässt sich verhindern, dass Menschen ihrem Leben ein Ende setzen? Darüber sprechen, sagt Henryk Mainusch – auch aus eigener Erfahrung.
rbb|24: Henryk Mainusch, Sie sind von Haus aus Neurologe und leiten auch einen Gesprächskreis für Hinterbliebene nach Suizid. Sie sind selbst mehrfach von Suizid in der Familie betroffen.
Henryk Mainusch: Ja, vor zweieinhalb Jahren hat sich meine Frau das Leben genommen. Ich hätte nie gedacht, dass sich meine Frau das Leben nimmt, weil es in unserer Geschichte auch schon vorher Suizide in der Familie gab. Ihre beiden Eltern haben sich das Leben genommen. Meine Mutter hat sich 1996 das Leben genommen. Und da wir schon in unserer Jugend erfahren haben, wie sich das anfühlt, wenn sich im näheren Umfeld jemand das Leben nimmt, war das für mich eigentlich nicht denkbar, dass meine Frau – wir haben auch zwei Kinder – dass sie selbst auch so aus dem Leben scheiden würde.
Rückblickend betrachtet: Haben Sie Anzeichen übersehen?
Psychische Erkrankungen wie Depressionen haben ein hohes Risiko, zu einem Suizid zu führen. Und darum kündigt sich das natürlich schon an im Rahmen einer depressiven Krise. Aber letztendlich denkt man auch, gerade wenn man Arzt ist – und meine Frau war auch Ärztin – kann das doch nicht die Lösung des Problems sein, sich das Leben zu nehmen. Das war dann der große Schock.
Was hat das mit Ihnen gemacht?
Der gesamte Lebensentwurf ist plötzlich zerstört. Man denkt ja mit Anfang 50 nicht an den Tod. Die erste Phase ist geprägt von, “wie geht das Leben jetzt aktuell erst mal weiter?” Man muss die Menschen informieren. Man steht unter Schock und ist wie im Tunnel. Später stellt man sich dann die Fragen: Wo konnte ich nicht helfen? War meine Liebe nicht stark genug, um meine Frau am Leben zu halten? Das sind Schuldvorwürfe, mit denen man plötzlich alleine steht. Da fängt dann auch für Hinterbliebene eine große Gefahr an, in einen Strudel zu geraten und keinen Ausweg zu finden. Da ist es wichtig, einzugreifen, denn Suizid-Hinterbliebene haben selbst ein erhöhtes Risiko, auch an Suizid zu sterben.
Könnte man also sagen, das ist ansteckend?
Ja, aber bei Ansteckungserkrankungen gibt es natürlich auch die Möglichkeit, Ansteckungswege zu verhindern. Und das ist der Aufruf, dass es Hilfsangebote auch in Berlin gibt, die leider noch nicht so bekannt sind und die Hilfe anbieten.
Was brauchen aus Ihrer Erfahrung Suizid-Gefährdete, damit sie nicht an diesen Point of No Return kommen und den letzten Schritt gehen?
Das Umfeld muss die Menschen ansprechen, denn wenn jemand Suizid-Gedanken hat und die sich verfestigen, ist die Gefahr von einem Tunnel, wo der Strudel nur noch eine Richtung weist. Und dem Menschen selbst fällt es so schwer, sich mit eigener Hilfe wieder aus diesem Strudel zu befreien.
Es ist ja ein großer Mythos, dass wenn man jemanden fragt: “Sag mal, Dir geht es doch nicht gut, hast du auch lebensmüde Gedanken?”, dass man da was anstößt. Genau das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen Menschen ansprechen auf ihre Gedanken, um dann mit ihnen ins Gespräch zu kommen und auch Hilfsangebote zu vermitteln, die es in Berlin wirklich gibt.
Wie geht es den Menschen in Ihrem Gesprächskreis? Welche Gefühle, welche Themen beschäftigen sie?
Es fällt schwer, im Freundeskreis zu sagen, wie es einem geht, denn man muss Menschen, die keinen Suizid im Familienkreis erlebt haben, erklären, was passiert ist, wie es einem geht, wie es dazu kam. In unserem Gesprächskreis mit Hinterbliebenen sind Leute, die alle das Gleiche durchgemacht haben.
Das Wichtige in so einem Gesprächskreis ist, Worte zu finden für die Gefühle, die man entwickelt hat. Das ist eine Situation, die muss man erst mal fassen können. Da hilft so ein Gesprächskreis, denn man hört von anderen, wie sie damit umgehen, wie ihr Weg ist. Und so stützt man sich gegenseitig.
Das heißt, das ist auch das, was der Gesprächskreis leisten kann, was Freunde eben nicht können.
Genau. Das ist ein geschützter Rahmen, wo man auch mal selbst sagen kann: “Mensch, mir geht es jetzt nicht so gut. Und ich denke, wie soll das Leben jetzt weitergehen?” In einem Gesprächskreis findet man Verständnis und natürlich auch Information, was den anderen hilft, aus einer Krise rauszukommen.
Was würden Sie sagen, was hilft auf jeden Fall?
Wie gesagt: direkt ansprechen. Das ist erst mal das Wichtigste. Das andere ist die Vernetzung mit Angeboten. Niedrigschwellig möchte ich immer wieder Werbung machen für die Telefonseelsorge, die in Berlin gut organisiert ist. Mit BeSu [BeSu Berlin.de] gibt es auch einen speziellen Teil für Angehörige von Menschen mit suizidalen Gedanken. Die kümmern sich auch um die Angehörigen. Es ist ein niedrigschwelliges Angebot, denn wir wissen alle: Wenn man eine Psychotherapie sucht, ist man erst mal auf Wartelisten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Stephan Ozsváth, rbb24 Inforadio.
Der Text ist eine redaktionell bearbeitete Fassung. Das Interview können Sie auch oben im Audio-Player nachhören.
rbb|24 berichtet in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche. Ausnahmen machen wir nur bei besonderen Umständen.
Sollten Sie selbst Selbsttötungsgedanken haben oder Gedanken, sich selbst Schaden zuzufügen, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Es gibt Hilfsangebote vor Ort, telefonisch, per Chat oder Mail. Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr erreichbar, auch anonym. Telefon: 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222.
Weitere Anlaufstellen gemeinnütziger oder städtischer Organisationen für Berlin sind auf berliner-notruf.de aufgelistet. Hilfsangebote in Brandenburg und überregional finden sich z.B. auf suizidprophylaxe.de (Webseite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention).
Sendung: rbb24 Inforadio, 10.9.2025, 09:05 Uhr