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Arnulf Rainer: Er hatte seine eigene Temperatur | ABC-Z

Ich hätte Arnulf noch einmal besuchen sollen. Nicht
irgendwann, nicht nach den Feiertagen, nicht erst, wenn man wieder Luft hat für
das, was man sich als Geschichte im Kopf zurechtlegt. Ich hätte ihn für ein
letztes großes Gespräch treffen sollen, das ich mir für die ZEIT vorgenommen
hatte. Es kam nicht mehr zustande. Arnulf Rainer, der jüngere Bruder meines
Vaters, ist am 18. Dezember 2025 gestorben, zehn Tage nach seinem 96.
Geburtstag. Mir bleibt also kein Interview, sondern nur die Erinnerung. Die setzt
sich nicht zusammen aus Fakten, sondern aus Bildern, Gerüchen, Tonfällen – und
Orten. Vielleicht passt das ohnehin besser zu meinem Onkel, dessen Werk immer
davon lebte, dass unter der sichtbaren Schicht noch etwas arbeitet, dass das
Überdeckte nicht verschwindet, sondern zurückspricht.

Wien

Mein erster Arnulf Rainer ist kein Porträt,
sondern ein Gewimmel. Galerie nächst St. Stephan in Wien in den 1960er-Jahren:
hohe Räume, weiße Wände, Stimmen, Schritte, das Rascheln der Mäntel. Ich war
ein Kind an der Hand meiner Eltern, und ich erinnere mich vor allem an
Proportionen. Wie groß die Erwachsenen waren, wie hoch die Rahmen hingen, wie
sehr alles nach oben drängte. Mein Vater Helmut, ein Chemiker und
Industriemanager, bewegte sich in dieser Welt mit einer Mischung aus Stolz und
Skepsis. Ich stapfte zwischen den Mänteln hindurch, die abstrakten Bilder
wirkten auf mich wie Gekritzel, zwischendurch meinte ich Tiere darauf zu
erkennen und gab den Werken Titel. Es war ein kindliches Spiel mit seltsamer
Ernsthaftigkeit. Ich sagte, was ich spürte, bevor ich es sehen konnte. Arnulf
reagierte nicht herablassend, sondern interessiert. Er wollte wissen, was
dieses Kind über seine Kunst dachte. Dieses Interesse hat sich mir eingeprägt:
dass da einer war, der nicht nur Bilder machte, sondern auch zuhören konnte.

Christian Rainer (64) war bis 2023 Chefredakteur des Nachrichtenmagazins “Profil”. Hier zu sehen 2013 mit seinem Onkel Arnulf Rainer in der Albertina in Wien © Karl Schöndorfer/​dpa/​dpa

Ich erinnere mich auch an eine Dachwohnung
in der Mariahilfer Straße, an das Atelier, an Kälte. Meine Eltern brachten
Brot. Arnulf lag im Bett, die Decke bis unter die Nase. Zeitungen tapezierten
die Wände – nicht als Dekor, sondern wie eine Schutzschicht gegen die Welt. Für
uns, aus der Enge des Salzkammerguts kommend, war das dennoch die große Stadt.
Und irgendwo am Rand dieser Familienwelt stand auch das Wissen um Arnulfs
Zwillingsbruder Reinhard, der Jurist wurde und später in der UN-Welt der Atombehörde
zu Hause war. In dieser Stadt saß ein Mann, der schon damals so wirkte, als
hätte er seine eigene Temperatur aus Arbeit und Stille, aus Rückzug und
Weltbezug zugleich.

Jahrzehnte später stand ich wieder dort. Arnulf war
längst ein Weltname. Ich kaufte seine Bilder, nicht aus Sammlertrieb, sondern
aus dem Bedürfnis, etwas zu haben, das nicht nur Erinnerung ist. Man kann
Familie nicht an die Wand hängen, aber man kann sich von ihr anschauen lassen –
oft genug hat er nämlich sich selbst übermalt, meine Kinder, auch mich.

Kärnten

Am Längsee, woher mein Großvater stammte,
gab es einmal ein kleines Familientreffen: Arnulf, sein Zwillingsbruder
Reinhard, mein Vater Helmut. Ein langer Holztisch in einem Bauernhof. Ich war
bereits erwachsen, fühlte mich in dem Moment aber wieder wie ein Teenager und
hörte den Brüdern zu. Sie sprachen über das Aufwachsen und über die Familie.
Ich war beeindruckt, welch guten Draht sie zueinander hatten, obwohl sie sich
fast nie sahen. Da wurde mir klar, was Familie bedeutet. Ich habe in dieser
distanzierten Familie selten so viel stille Übereinkunft erlebt wie dort.
Arnulf sprach wenig, wie immer. Aber zwischen den kurzen Sätzen war Wärme. Er
fühlte sich wohl – merkwürdig, weil er dort nicht aufgewachsen war, und doch
folgerichtig, als hätte Herkunft eine zweite Adresse. An diesem Tisch zeigte
sich eine Eigenschaft, die man bei ihm leicht übersehen konnte, weil sein Werk
so radikal wirkt: eine wertkonservative Treue, nicht zur Pose, sondern zur
Form. Familie als Form, Arbeit als Form. Und gleichzeitig die Emanzipation von
jenem deutschnationalen Kärntner Hintergrund, der sich gern pathetisch als
Tradition tarnt. Diese Emanzipation war keine Rede, sondern
Gegenarbeit.

Arnulf Rainer, geboren am 8.12.1929, starb am 18.12.2025 © David Payr/​laif/​laif

Er kannte das
Autoritäre nämlich nicht aus Büchern, sondern aus der eigenen Kindheit. Er
besuchte die Napola, die nationalpolitische Erziehungsanstalt der Nazis in
Traiskirchen, und verließ sie, als man ihn zwang, “nach der Natur” zu zeichnen.
In dieser kleinen Szene steckt der Ursatz seines Lebens: dem Vorgefundenen
nicht gehorchen. Dass sein Werk ein Aufstand war gegen das Autoritäre in der
Nachkriegsgesellschaft, klingt wie ein Feuilletonsatz – bis man begreift, wie
konkret das ist: formal, körperlich, insistierend. Übermalen heißt nicht
zerstören. Übermalen heißt verwandeln.

New York

Es war 1989, ich war bereits Journalist bei
der Arbeiter-Zeitung, und zu Arnulfs 60.
Geburtstag fand eine Einzelausstellung im Solomon R. Guggenheim Museum statt.
Der kleine Mann aus dem kleinen Land im vielleicht schönsten Museum der Welt:
die Museumsschnecke als Bühne, die österreichische Politik im Aufgebot, die großen
Gesten der Repräsentation. Auch unsere Familie war eingeflogen. Und mittendrin
sah ich ihn, der doch immer Einzelgänger blieb, als wäre Anerkennung etwas, das
man zwar entgegennimmt, aber nicht bewohnt. Wertkonservativ war er da wieder,
in seiner Resistenz gegen Mode: patinierte Sakkos, alte Krawatten. Kein Stil,
eher ein stilles Beharren: Ich bin hier wegen der Arbeit, nicht wegen des
Glanzes. Seine Distanz war nie Kälte, sondern Bedingung von Freiheit. Je größer
die internationale Präsenz, desto entschiedener der Rückzug ins Innere – als
brauche die Weltgeltung einen Gegenraum. “Dabei kann ich nur etwas
überarbeiten, zu dem ich einen Bezug habe, das ich schätze”, sagte er einmal.

Innviertel

Vor gut einem Monat war ich bei ihm, in
seinem umgebauten Bauernhof im Innviertel. Draußen eine Stupa, ein kleines
buddhistisches Monument – eine stille, unerwartete Form im österreichischen
Winter. Drinnen: Zeitungen, der kleine Hund, das Enkelkind, die Tochter, der
Schwiegersohn, seine Frau. Arnulf war körperlich schwach, aber geistig wach. Er
aß und trank wenig, schlief viel, wirkte aber bereit zu gehen: ohne Wehmut,
ohne Klagen.

Ich saß da und dachte an das Gespräch, das
ich noch führen wollte, an Fragen, die Ordnung schaffen sollen. Es ist drei
Jahrzehnte her, dass ich ihn fragte, ob er gläubig sei. Seine Antwort war kurz
wie immer: “Natürlich!”, sagte er und sah mich ungläubig an. Darüber hätte ich
gerne noch einmal geredet.

Doch an jenem Nachmittag merkte ich, wie
unpassend es ist, einen Menschen noch einmal in die Öffentlichkeit zu holen,
gerade dann, wenn er sich schon löst. Und gerade dann, wenn er sich schon immer
mit seinem Werk gegen diese falsche Annäherung gewehrt hat. In seinen Notizen
aus dem Jahr 1951 schrieb er: “Ich bin nicht an simpler ‘Wahrheit’ in der
Kunst interessiert. Ich will mir zuerst Distanz, Respektabstand verschaffen.
Durch diese hässlichen Selbstdarstellungen kommt mir niemand zu nahe.”

Und doch gab es bei dem Treffen Risse in der
Strenge, durch die Wärme fiel. Ein Blick, der traf, ohne zu verletzen. Er
konnte Sprache wie Farbe behandeln: drehen, schichten, verschieben, bis sie
nicht mehr glatt war. Vielleicht war das die Verbindung zwischen ihm, dem
Künstler, und mir, dem Journalisten: das Misstrauen gegen den zu leichten Satz
– und der Glaube, dass Wahrheit erst entsteht, wenn man am Vorgefundenen
arbeitet, nicht wenn man es nur beschreibt.

Unser letztes großes Gespräch kam nicht mehr zustande.
Seine Kunst musste nicht beruhigen, um gültig zu sein; sie durfte rau,
widerständig, unhöflich sein, solange sie etwas in Bewegung hielt. Es bleibt
ein Onkel, den man zu spät noch einmal besuchen wollte, der aber keine
verpasste Geschichte ist, sondern ein Auftrag: das Vorgefundene nicht zu
glätten, sondern es zu verwandeln.

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