Stil

Warum kleiden sich die Leute bei Hitze so freizügig? | ABC-Z

Ein Sommerabend in Düsseldorf. Das Ambiente: ein gehobenes Restaurant, die Speisen erlesen, die Weine exquisit. Manchen Gästen ist die Hitze des Tages noch anzusehen, ihre Wangen sind leicht gerötet. Beim Gegenüber zeichnet sich am Handgelenk ein heller Streifen ab; tagsüber hielt dort eine Uhr die Sonne in Schach. Die Garderobe: leichte Kleider und Blusen, klassische Hemden, hier und da ein Sakko. Wer es ablegt, atmet erleichtert auf. Verständlich an diesem Abend, der sich nur langsam von den über 30 Grad des Tages abkühlt. Dann nimmt ein Gast direkt am Nebentisch Platz. Mittelalt, gut gelaunt – und in einem Outfit, das trotz aller Sommerstimmung einfach nicht in die Kulisse dieses Abends passt.

Zu Jeans und Sneakern trägt er ein Achsel­shirt. Mit dem weiß-lila Muster mutet es an wie ein Mix aus dem Trikot, in dem Carlos Álvarez jüngst die US Open gewann, und den Unterhemden, in denen Bruce Willis sich einst durch die „Stirb langsam“-Filme kämpfte. Von Grand-Slam-Titeln und Kinobösewichten fehlt hier jede Spur, der Achselshirtträger macht es sich dennoch bequem. Gerade als die Vorspeise serviert wird, stützt er die Ellenbogen auf, so weit weg vom Körper, dass sie fast die Tischkanten überragen. Damit gewährt er ungeahnte Einblicke in seine Achselhöhlen. Das sieht so intim und ja, auch so unappetitlich aus, wie es klingt.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Der Anblick wirft eine der Fragen des Sommers schlechthin auf: Warum? Dieses Warum drängt sich auch im Italienurlaub auf, wenn in der Trattoria in Strandnähe Menschen in Bikini- und Badehosen Platz nehmen wollen. Wenn sich an der Berliner Supermarktkasse nackte Männeroberkörper vor einem positionieren. Wenn im Boutiquehotel in Südfrankreich jemand lautstark platschend mit Flipflops zum Buffet schlurft und wenn eine junge Frau in der Hamburger U-Ba­hn genüsslich die freigelegten Zehen in ebensolchen Flipflops räkelt.

Dieses sommerliche Warum mag für manche spießig klingen. Es sei zu heiß für Dresscodes, heißt es dann. Gerade in den Ferien sollte man auf sie pfeifen dürfen. Und ja, Orte wie Badeseen und Strände verdanken ihren Charme auch dem Umstand, dass hier (fast) keine Stilregeln herrschen. Auch beim Sport stört sich niemand an Achselshirts.

Arbeiten sie denn alle in schweren Schutzschuhen? Herrscht Uniformpflicht?

Aber die Vehemenz der Befürworter des Lässiglooks jenseits von Wasser und Laufrouten wirft Fragen auf: Arbeiten sie alle in Berufen mit Uniformpflicht oder im Handwerk und müssen fünf Tage die Woche schwere Schutzschuhe tragen? Dann wäre der Drang nach möglichst wenig und formlosem Stoff an Körper und Füßen verständlich. In den meisten Bürojobs aber herrschen schon lange weder Krawatten- noch Sakkopflicht, werden weder hohe Absätze noch Kostüm erwartet, erscheinen Menschen sogar mit Birkenstocks im Büro.

Dennoch müssen sich Flipflop- und Badehosen-in-der-Stadt-Trägerinnen und -Träger offenbar von einer so schweren stilistischen Last erholen, dass sie ihr Umfeld komplett ausblenden. „Sich gut zu kleiden, ist eine Frage guten Benehmens“, sagte Tom Ford einmal. Der Designer und Erfinder des „Porn Chic“ dürfte über jeden Verdacht der Spießigkeit erhaben sein – und hegt eine tiefe Abneigung gegenüber Flipflops. Die sind auch in der Mailänder Scala verboten, genau wie ärmellose Hemden und kurze Hosen. Seit Juli wird dieses Verbot wieder rigoros durchgesetzt. Mancher Supermarkt in italienischen Badeorten, an der Ostsee und in der Schweiz lässt Kundschaft in Bikini oder Badehose nicht ein. Beides ist auch auf den Straßen einiger Orte in Spanien, Kroatien und Frankreich untersagt.

Ferienmode heute: Stadtexkursion in Flipflops
Ferienmode heute: Stadtexkursion in Flipflopsddp

Dabei geht es nicht um Angst vor Nacktheit oder falsche Scham, sondern schlicht um Respekt, um Rücksicht, oder, um es mit Tom Ford zu sagen, um gutes Benehmen: Nicht jeder möchte alles sehen. Für die eine ist der Anblick des offenen Hemds am Körper des Mannes, in den sie verliebt ist, wunderbar; für die andere ist er ungewollt intim. Der eine liebt die Füße seiner Frau in Flipflops, der nächste fragt sich nur (mal wieder): Warum? Warum tut sich ein Mensch den Gang durch unweigerlich vom Alltag verschmutzte Straßen mit so einem Hauch von Nichts an den Füßen an? Warum lässt der Mann mit dem offenen oder ganz ohne Hemd den Geruch von Essen so nah an seine Haut, wo er mit dem von Sonnencreme und Schweiß verschmilzt? Und warum möchte jemand nur in Bikinihose auf einem Stuhl Platz nehmen, auf dem schon unzählige andere, womöglich ebenso spärlich Bekleidete, saßen, schwitzten und kleckerten?

„White Lotus“ zeigt, wie es besser geht.

Die Zeiten von Reise- und Strandgarderobe wie in Frischs „Homo faber“ oder Manns „Tod in Venedig“ sind (leider) vorbei, aber es gibt sie, die ästhetischen und luftig-bequemen Alternativen. Inspiration liefert etwa die in Hotelresorts spielende Serie „White Lotus“. Kostbare Momente des Sommer- und Feriengefühls können – für alle – noch schöner werden, wenn man sie mit Bedacht umhüllt. Einengend muss das nicht sein, im Gegenteil: Schon der gerade verstorbene Giorgio Armani befand, Luxus müsse bequem sein, andernfalls sei es keiner.

Hoffnung macht ausgerechnet der im Urlaub bei vielen aus Pragmatismus neu entflammte Mut zum Hut, einem der wohl elegantesten und im Alltag leider in Vergessenheit geratenen Accessoires. Der Wunsch nach etwas Schatten auf dem Kopf, in Gesicht und Nacken verleiht der Sommergarderobe einen Hauch lässiger Eleganz – die auch dem Rest von so manchem Outfit guttäte.

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