Der Film „Das Fest geht weiter!“ im Kino | ABC-Z

An der Kreuzung der Rue d’Aubagne mit der Rue Jean Roque, nicht weit entfernt vom Alten Hafen in Marseille, steht auf einer hohen, schlanken Säule eine Büste des Dichters Homer. Die „Phokaier“ entbieten ihm auf einer Plakette ihren Gruß. „Phocéens“, so nennen sich die Menschen in der französischen Stadt am Mittelmeer in Erinnerung an antike Besiedlung aus dem kleinasiatischen Raum. Mit Homer begann in Europa das Erzählen, und wenn es heute darum geht, für eine Gemeinschaft etwas Verbindendes zu schaffen, dann hat das auch bessere Chancen, wenn es sich nicht um eine Verordnung aus Paris oder Brüssel (oder von einem religiösen Führer) handelt, sondern um eine gute Geschichte.
Der Filmemacher Robert Guédiguian ist seit einigen Jahrzehnten der wichtigste Chronist der Phokaier. Für ihn ist Marseille der Mikrokosmos, an dessen Beispiel er seine Vision einer besseren Welt entwerfen kann. Nun hat er mit „Das Fest geht weiter!“ ein weiteres Kapitel hinzugefügt. Ausgangspunkt ist eine Katastrophe. Im November 2018 stürzten in der Rue d’Aubagne zwei Gebäude ein, acht Menschen starben, weil die zuständige Aufsicht geschlampt hatte. Guédiguian entwickelt daraus allerdings keinen Thriller, der in die Büros der Stadtverwaltung und vor die Justiz führen würde, sondern versucht, den Zusammenhalt, den er dem Viertel unterstellt, mit der Erzählung von einem Aufbruch zu verbinden.
In den Mittelpunkt stellt er die Ärztin Rosa, die mit dem Gedanken spielt, für ein progressives Bündnis bei einer Kommunalwahl anzutreten – als „écolo“, also als Grüne, was an den Stammtischen dazu führt, dass Leute sich auszumalen beginnen, was sie ihnen alles verbieten könnte, wenn sie einmal das Sagen hätte. Aber Rosa ist weit entfernt von einer Entscheidung, im Gegenteil ist sie skeptisch, dass die komplizierte Koalition, für die sie kandidieren würde, auch eine tragfähige Grundlage bilden kann. Es ist im Wesentlichen das Spektrum der französischen Linken insgesamt, das Guédiguian nicht inhaltlich ausbuchstabiert, sondern das er in einer anderen Politik spiegelt, die er aus dem Zusammen- und Familienleben von Rosa entwickelt.
Gelesen wird am Strand, im Café, im Bett – bei jeder Gelegenheit
Sie ist die schon lange verwitwete Matriarchin eines kleinen, armenischen Clans, der seinen Bezugspunkt in einem Gasthaus im Viertel hat. Ihr Bruder ist kommunistischer Romantiker und lebt in einer keuschen Wohngemeinschaft mit einer jungen Frau afrikanischer Herkunft, die als Pflegerin in dem Krankenhaus arbeitet, in dem auch Rosa angestellt ist. Sarkis, einer ihrer beiden Söhne, führt das Restaurant und stellt gerade eine neue Frau vor, die er heiraten will und mit der er den Genozid wiedergutmachen möchte: Neun kleine Armenier erhofft er sich von ihr, so viel Pathos muss bei aller Ironie sein. Bei einem „plat emblématique“, einem identitätsstiftenden Gericht mit Nudeln, Anchovis und Walnüssen, wird Alice in die Familie aufgenommen. Dass sie ein trauriges Geheimnis in sich trägt, bemerkt Sarkis nicht.
Alice arbeitet an einem künstlerischen Projekt, mit dem sie an den Häusereinsturz erinnern möchte. Es soll etwas werden für das ganze Viertel, halb Demo, halb Trauerritual, gern etwas, das es mit der Wirkmacht von Homers Epen aufnehmen kann. Zum Glück bemüht sich ihr Vater Henri gerade darum, zu Alice wieder ein besseres Verhältnis zu gewinnen, und liefert ihr wichtige Stichworte. Henri hat, wie fast alle Figuren bei Guédiguian, oft ein Buch dabei, gelesen wird am Strand, im Café, im Bett, bei jeder Gelegenheit. Bewusstsein entwickelt sich im Alltag, braucht aber auch Nahrung. Henri liest zum Beispiel „Lector in fabula“, den Theorieklassiker von Umberto Eco über die Strukturen des Zusammenspiels zwischen Lektüre und Text.
Rosa, eine Figur der linken Graswurzelpolitik
Das mag man auch als einen dezenten Hinweis darauf sehen, dass es Guédiguian schon immer darum ging, eine linke Politik auf andere Grundlagen als die der Theorie oder der Ideologie zu stellen. Seine Figur der Rosa ist Exempel einer Graswurzelpolitik, die auf der Ebene der Straßenkreuzungen und der kleinen Plätze ihren idealen Ort hat. Gespielt wird sie von Ariane Ascaride, mit der Guédiguain seit vielen Jahren verheiratet ist, und die traditionell der Mittelpunkt eines Ensembles ist, zu dem auch Jean-Pierre Darroussin gehört, der in „Das Fest geht weiter!“ als Henri auftritt.

Kino als Langzeiterzählung mit einer Wahlfamilie, die Marseille in eine Realutopie verwandelt – das ist in etwa, was Guédiguian aus der Ära Mitterrand in die Ära Melenchon überführt hat. Die organisierte Rechte kommt gar nicht vor, sieht man von gelegentlichen pflichtschuldigen Distanzierungen von den „Faschos“ ab. Was auch nicht vorkommt und damit dem Film einen anachronistischen Charme verleiht, sind die digitalen Plattformen.
Guédiguian steht für eine Medienevolution, die von den ersten Epen bis zu einem Kino reicht, das wie eine Kraft der Vergangenheit wirkt. Kommt von daher eine wehmütige Grundstimmung, die den Film durchzieht? Rosa steht am Ende in einem nächtlichen Amphitheater und hält eine Rede nur für sich und Henri. Es ist wie eine Probe für einen Auftritt in einer Arena, in der Homer und das Erbe der Antike, also Kultur insgesamt, erst wieder beschworen werden müssen. Der kleine Platz mit der Säule von Etienne Dantoine aus dem Jahr 1803 ist die Agora, auf der eine kommende Gemeinschaft aus Marseille das Wort ergreift.
Nicht mit vielen Postings, sondern mit einem Film, der selbst so etwas sein möchte wie ein Platz.