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Darum wirft das Mittelfeld Fragen auf | ABC-Z

Am Dienstag, dem Tag vor dem Nations-League-Halbfinale gegen Portugal, sitzen Julian Nagelsmann und Leon Goretzka im Pressesaal der Münchner Arena. Es ist ein eher routinierter Auftritt, Nagelsmann spricht über den erhofften Weg ins Finale, Goretzka auch über seinen Weg zurück in die Nationalmannschaft.

„Die Situation für mich hat sich insofern geändert, als ich vielleicht noch mal einen Hauch mehr Dankbarkeit habe“, sagt er, „weil ich weiß, was für einen Weg ich gegangen bin, um wieder hier zu sein.“ Früher habe er versucht, sich diesen Gedanken „einzuprügeln“. Aber es sei etwas anderes, diese Erfahrung auch in sich zu tragen.

Es hat sich aber nicht nur für Goretzka etwas geändert, sondern auch für die Fußball-Nationalmannschaft. Was das ist, kann man auch daran erkennen, wie Nagelsmann und Goretzka miteinander sprechen, wie sie sich die Bälle zuspielen. Wie zwei alte Vertraute.

Das sind sie ja auch gewesen, früher, in der gemeinsamen Bayern-Zeit, aber gewiss nicht mehr, nachdem Nagelsmann im Frühjahr nach dem stürmischen Herbst 2023 Goretzka die Tür gewiesen hatte. Dass Goretzka nun überhaupt hier sitzt, zeigt: Es hat sich etwas rasant entwickelt. Die Frage ist nur: Hat das mehr mit Goretzka und dessen Entwicklung zu tun? Oder damit, dass bei der Nationalmannschaft etwas stagniert ist?

„Nicht die Deutschen hatten die Kontrolle“

Am Mittwochabend, nach dem Halbfinale, sitzt Roberto Martínez im Pressesaal, der Trainer der portugiesischen Nationalmannschaft. Er sagt: „Nicht die Deutschen hatten die Kontrolle, wir hatten die Kontrolle.“ Er sagt das, in Variationen, noch ein, zwei weitere Male. Und weil darüber, ob ein Spiel kontrolliert wird, meistens im Zentrum entschieden wird, muss man an diesem Abend festhalten: Die Deutschen sind auch deshalb aus der Nations League ausgeschieden, weil sie im Zentrum nicht gut genug waren.

Man kann sogar ein bisschen weiter gehen und sagen: In einer Woche, in der man in München eine Mustermesse des europäischen Fußballs sehen kann, hat man erkennen müssen: Die Standards werden gerade anderswo gesetzt.

Sommer 2024. Nach der Europameisterschaft steht Nagelsmann vor der Aufgabe, seinem Team einen neuen Kern zu verpassen. Der alte, mit Toni Kroos, war einer der Gründe, warum die Deutschen ein starkes Turnier gespielt hatten. Weil sie mit Kroos jemanden hatten, der wie kaum ein anderer den Ball kontrollieren konnte, und das immer eine gute Voraussetzung ist, um auch das Spiel zu kontrollieren.

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Wenn man allerdings noch ein kleines bisschen weiter zurückspult, zum EM-Viertelfinale gegen Spanien, und den Zoom ein bisschen heranfährt, dann sieht man auch noch einmal etwas anderes. Einen Anhaltspunkt, warum die Deutschen zwar eine gute, aber keine noch bessere EM gespielt haben. Weil Nagelsmann seinem Kern nicht mehr vertraute. Anstelle von Robert Andrich, der bis dahin immer als Kroos’ Komplementär gespielt hatte, spielte der vielleicht schnellere, aber letztlich schwächere Emre Can.

Das ist, bei aller Nationalmannschafts- und Nagelsmann-Begeisterung, die sich während und nach der EM entwickelte, bis heute ein kleiner Schatten, der über dieser EM liegt. Und es zeigt: wie wichtig nicht nur ein Kern als solcher ist. Sondern auch, dass möglichst der eigene den Maßstab setzt, und nicht der des Gegners.

Am Samstag und am Mittwoch der vergangenen Woche kann man in der Münchner Arena sehen, wie so etwas aussieht: ein Kern, der den Maßstab setzt. Dass das in der Mannschaft aus Paris und der aus Portugal einem ähnlichen Prinzip folgt, hat auch Nagelsmann beobachtet. „Man kann sie nicht so richtig in eine Schablone pressen, da ist viel Bewegung, ähnlich wie bei PSG“, sagt er am Vorabend des Halbfinales.

Vorne soll der deutsche Weg über Florian Wirtz (rechts) und Jamal Musiala führen.
Vorne soll der deutsche Weg über Florian Wirtz (rechts) und Jamal Musiala führen.dpa

Das, was Goretzka und Aleksandar Pavlović dann gegen Portugal dagegensetzen, ist nicht schlecht, jedenfalls nicht schlechter als das, was in anderen Mannschaftsteilen von den Deutschen zu sehen ist. Der tief vor der Dreierkette postierte Pavlović spielt sehr viele Pässe, von denen viele gut sind, ein paar aber auch gefährlich. Auffälliger ist der offensivere Goretzka, der zwei-, dreimal vor dem portugiesischen Tor auftaucht. Es ist aber auch nicht gut genug, vor allem nicht, als es wirklich darauf ankäme, besser zu sein: als sich die Führung binnen weniger Minuten in einen Rückstand verwandelt hat.

Ist Aleksandar Pavlović schon reif genug für die zentrale Aufgabe?
Ist Aleksandar Pavlović schon reif genug für die zentrale Aufgabe?Picture Alliance

Zunächst einmal aber ist es vor allem: anders. Weil Goretzka und Pavlović andere Spieler sind als jene, die das Mittelfeld aus Paris und Portugal bilden, und weil die deutsche Mannschaft einem anderen Konstruktionsprinzip folgt. Es gibt verschiedene Wege zum Ziel, und der deutsche soll vor allem über Florian Wirtz und (den diesmal fehlenden) Jamal Musiala führen. Das ändert aber nichts daran, dass es dafür eine Basis braucht. Was man elf Monate nach der EM und elf Monate vor der WM festhalten muss: Es ist eines der Ziele, denen Nagelsmann noch nicht entscheidend näher gekommen ist.

Pavlović und Stiller sollen den Extrakick geben

In Kürze liest sich die Entwicklungsgeschichte, die keine richtige ist, so: In den ersten drei Spielen nach Kroos bilden Andrich und Pascal Groß das Mittelfeldzentrum, eine grundsolide Lösung, aber keine, die nach einem künftigen Weltmeister aussieht. Die interne Hoffnung lautet schon da: dass noch andere eine Entwicklung machen, die den Deutschen einen Extrakick Richtung Amerika verpassen: Pavlović und Angelo Stiller.

Hat Angelo Stiller das Zeug, das deutsche Spiel zu lenken?
Hat Angelo Stiller das Zeug, das deutsche Spiel zu lenken?Picture Alliance

Pavlović hat beim FC Bayern schon gezeigt, was er einem Spiel geben kann, Präsenz und Pässe, jede Menge davon und in einer für seine Entwicklungsstufe bemerkenswerten Qualität. Stiller hat beim VfB Stuttgart gezeigt, dass er ein Spiel kontrollieren kann, und zuletzt, im Pokalfinale, dass er ihm mit wenigen Ballberührungen eine andere Richtung geben kann, auch wenn der Gegner Bielefeld und nicht Brasilien hieß.

Als die deutsche Elf im vergangenen Oktober gegen die Niederlande spielt, lässt Nagelsmann sie gemeinsam im Zentrum ran. Aber in den Wochen und Monaten danach zeigt sich, dass das vielleicht die Zukunft ist, die Gegenwart aber noch nicht ganz mitkommt. Beide werden aus unterschiedlichen Gründen in ihrer Entwicklung gebremst.

Als Nagelsmann im März dieses Jahres der F.A.Z. ein Interview gibt, wird deutlich, wie groß seine Baustelle im Zentrum eigentlich ist. Als es um die mögliche Besetzung geht, nennt er zwar ein halbes Dutzend Spieler. Aber er sagt auch noch andere, eher unvorteilhafte Dinge. Er spricht über Spieler, die er nur noch übergangsweise in seinem Team sieht, und es fällt nicht schwer, dabei an Andrich und Groß zu denken.

Er spricht über Spieler, die in den Vereinen mehr spielen müssten, wenn sie bei der WM eine Rolle spielen wollen, er nennt Andrich und Pavlović, bei dem sich kurz danach herausstellt, dass er Pfeiffersches Drüsenfieber hat. Und er spricht über Joshua Kimmich, den Kapitän, von dem er erstaunlich deutlich sagt, dass er ihn wieder im Zentrum sähe, wenn nur jemand da wäre, der einen kompetenten Rechtsverteidiger spielt.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Klingt das nach einem Kern?

Es ist in dieser Zeit, dass Nagelsmann sich mit dem Namen Goretzka beschäftigt. Er taucht da sogar schon auf in seinem Notizbuch, bildlich gesprochen, allerdings noch mit Bleistift skizziert. Dann geht es aber ganz schnell. Und weil es gegen Italien, in den beiden Viertelfinals der Nations League, auch noch ziemlich gut aussieht, sieht es plötzlich nach einem Glücksfall für den deutschen Fußball aus.

Mit wem harmoniert Goretzka am besten?

An Goretzka führt für Nagelsmann bis auf Weiteres kein Weg mehr vorbei. Doch wie weit er das Spiel der Deutschen tragen kann, als klassischer Box-to-Box-Spieler, ist eine andere Frage. Während man in München und Stuttgart in diesen Tagen die Zukunft des europäischen Fußballs gesehen hat, war es im deutschen Trikot eher die Vergangenheit des FC Bayern, mit Leroy Sané, mit Serge Gnabry, mit Goretzka. Es wird auch darauf ankommen, wer mit ihm am besten funktioniert.

Joshua Kimmich wird in der Verteidigung gebraucht.
Joshua Kimmich wird in der Verteidigung gebraucht.dpa

In seinen drei Spielen seit der Rückkehr hatte er drei verschiedene Partner, Groß, Stiller, der diesmal verletzt fehlt, Pavlović. Fest steht nur: Bis zur WM werden nicht mehr viele Spiele kommen, in denen ein neuer Kern sich bilden und festigen kann. Für so etwas brauchte es idealerweise Gegner wie in dieser Woche Portugal oder Frankreich im Spiel um Platz drei am Sonntag (15.00 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Nations League, bei RTL und DAZN). Wenn es im Herbst weitergeht, in der WM-Qualifikation, dann heißen sie Slowakei, Nordirland, Luxemburg.

Am Abend vor dem Halbfinale gegen Portugal spricht Nagelsmann im Pressesaal in München auch darüber. Dass dort, wo andere Mannschaften das Spiel in Schwung bringen, bei den Deutschen so viel Bewegung herrscht. Er sagt: „Die Illusion hatte ich nicht nach der EM, dass wir immer mit denselben vier oder fünf Mittelfeldspielern spielen können bis zur WM. Wir brauchen ja nicht nur elf Spieler, die beginnen, sondern ein paar mehr, insofern war es nicht so schlecht, dass auch die mehr Spielzeit kriegen.“

Nach dem Spiel, das Portugal auch im Zentrum gewonnen hat, sitzt Martínez in dem Pressesaal und spricht darüber, wie er seine Mannschaft für dieses Spiel komponiert hatte. Dass er Vitinha, den stärksten Mann aus dem Champions-League-Finale, erst spät eingewechselt habe, um seine Mannschaft dann noch stärker zu machen. Er spricht auch darüber, dass es zweieinhalb Jahre gedauert habe, seine Mannschaft zu dem zu entwickeln, was sie ist. Man kann das wohl auch so übersetzen: Zu glauben, man könne einen neuen Kern von heute auf morgen bilden, wäre eine Illusion.

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