Demokratie-Forscher verlässt USA: “Wir sind eine autokratisch regierte Nation” | ABC-Z

Der deutsch-amerikanische Wissenschaftler und Autor Jason Stanley ist eine renommierte Stimme der Demokratieforschung in den USA und der Welt. Wegen des Feldzugs der Trump-Regierung gegen die Universitäten und andere Forschungseinrichtungen verlässt er nun die Vereinigten Staaten. Er könne nicht mehr in Ruhe arbeiten, sein Geburtsland sei eine autokratisch regierte Nation, erklärt er im Interview mit ntv.de und RTL. An seine zweite Heimat Deutschland richtet Stanley eine düstere Warnung.
RTL/ntv.de: Sie sind seit 2013 Professor an der Yale Universität in den USA. Sie forschen über Demokratie, haben mehrere Bücher geschrieben, unter anderem “Wie Faschismus funktioniert”. Jetzt haben Sie sich dafür entschieden, nach Kanada zu gehen. Weshalb?
Jason Stanley: Weil unsere Universitäten von einer Regierung angegriffen werden, die Professoren hasst und die Forschung angreift. Es ist einfacher, woanders zu lehren und Forschung zu betreiben, weil man es dann nicht mehr unter diesem Druck tun muss.

Der Forscher und Philosoph Jason Stanley verlässt angesichts der Politik der US-Regierung sein Geburtsland. Im Hintergrund das Foto seiner jüdischen Mutter und Großeltern, aufgenommen 1946 im polnischen Warschau – und ein paar seiner Bücher.
(Foto: Roland Peters)
Donald Trump droht mit Geldentzug, wenn sich Hochschulen nicht seiner Politik anpassen, fordert das Ende von Gleichstellungsmaßnahmen und will sich offenbar in die Meinungsfreiheit und Forschung einmischen. Gab es einen bestimmten Moment, an dem Sie gesagt haben, das war es jetzt für mich, ich werde gehen?
Es war das, was die Regierung getan und wie die Columbia Universität darauf reagiert hat. Die Columbia Universität hat alle Forderungen akzeptiert. Was die Regierung verlangt hat, war unsinnig, und die Begründung war unsinnig. Columbia hat einfach aufgegeben. Also habe ich ein Angebot der Universität von Toronto angenommen.
Mit Columbia ging es los, aber danach hat die Regierung weitere Universitäten unter Druck gesetzt, unter anderem Harvard. Befürchten Sie, dass Yale als Nächstes dran ist?
Es ist eine Strategie. Jede Woche greift die Regierung eine neue Universität an. Sie will, dass die Hochschulen sich nicht untereinander absprechen. Wir wissen nicht, ob Yale attackiert wird. Vielleicht wird sie ein paar Elite-Universitäten in Ruhe lassen. Hoffentlich gehört Yale dazu, denn das ist eine großartige Universität. Aber alle müssen sich zusammen gegen diese Regierung wehren, auch wenn wir nicht selbst das Ziel sind.
Was sollten die Universitäten genau tun?
Sie müssten gemeinsam sagen, dass die Argumente der Regierung unsinnig sind. Antisemitismus gibt es immer, aber in Harvard etwa ist Islamophobie, der Hass gegen Moslems, ein viel größeres Problem. Es gibt dazu zwei Untersuchungen: 91 Prozent der muslimischen Studenten haben gesagt, dass sie keine Meinungsfreiheit haben. Unter jüdischen Studenten haben dies 61 Prozent gesagt. Universitäten und die Medien müssen ganz deutlich sagen: Das eigentliche Problem ist, dass man nicht sagen darf, dass Israel Kriegsverbrechen in Gaza begeht oder Sorgen um Palästinenser und ihr Leben ausdrückt.
Trumps Regierung argumentiert, die Universitäten täten zu wenig gegen Antisemitismus. Ist das nur ein Vorwand?
Fast alle jüdischen Amerikaner haben das als Vorwand erkannt. Palästinensische Menschen haben die gleichen Rechte wie andere, aber die Regierung bezeichnet das als Terrorismus.
Glauben Sie, dass Donald Trump ein Autokrat ist?
Ich weiß, dass Donald Trump ein Autokrat ist, und Sie wissen das auch. Studenten mit Visum werden ohne Grund verhaftet, nur weil sie irgendwas gegen Israel oder was Israel in Gaza macht, geschrieben haben. Dann sieht man diese Videos der Beamten der Einwanderungsbehörde ICE, die ein wenig wie die Gestapo aussehen, die Leute verhaften. Die Regierung greift zudem die Institutionen der Demokratie an, die Universitäten, die Presse, Rechtsanwälte. Es gibt keine Rechtsstaatlichkeit mehr. Gesetze gelten nur noch für jene, die Trump nicht unterstützen. Er selbst und seine Unterstützer können machen, was sie wollen. Er hat selbst gesagt, dass er ein Autokrat ist: Ich bin ein König. Das heißt: Ich stehe über dem Gesetz.
Auch Steven Levitsky, Autor von “Wie Demokratien sterben”, hat gesagt, die USA seien in eine Form von Autoritarismus gerutscht. Sie stimmen also zu?
Das ist doch eine rhetorische Frage! Ein weiteres Beispiel: Die Gesetze sind so gestaltet, dass Trumps Regierung jemanden juristisch angreifen kann und der Verklagte selbst seine Rechtsanwälte bezahlen muss. Auch wenn derjenige am Ende gewinnt, kostet das Millionen Dollar. Die Regierung kann also jeden ins Fadenkreuz nehmen und ruinieren. Das ist nicht wie in Deutschland. Schon eine solche substanzlose Klage ist bei Ihnen unmöglich. Ein Anwalt kostet etwa 500 US-Dollar – pro Stunde. Stellen Sie sich vor, solch ein Prozess dauert zwei Jahre. Da müsste ich alles verkaufen. Die Regierung und jeder Reichere kann jeden anderen ruinieren, wenn sie jemanden nicht mögen.
Sie sagen, es sei wichtig, dass die Universitäten zusammenhalten. Sie sind in New York geboren und es ist Ihre Heimat. Warum haben Sie sich trotzdem entschieden, nach Kanada zu gehen?
Für die Demokratie ist es ein globaler Kampf. Ich könnte hier bleiben, so wie viele Kollegen, die sehr mutig sind. Ich kann aber auch nach Kanada ziehen und den weltweiten Kampf dort kämpfen. Ich will dahin gehen, wo ich über Demokratie forschen kann. Hier ist das schwieriger. Die Universität Toronto wird viele Professoren aus den Vereinigten Staaten anlocken können. Denn Professoren gehen dahin, wo sie in Ruhe forschen können.
Was passiert Ihrer Meinung nach gerade mit dem Bildungssystem in den USA?
Wie in vielen autokratischen Ländern wird unser Bildungssystem zerstört und ersetzt mit einer autoritären Version. Die Regierung sagt, sie wolle ein “patriotisches Bildungssystem” haben. Stellen Sie sich das mal vor: Sie haben ein Kind in Deutschland und es kommt in die Vereinigten Staaten, um zu studieren, und die Professoren behaupten, dass die Vereinigten Staaten das größte Land in der Weltgeschichte seien. An Universitäten in autokratischen Ländern gibt es keine Meinungsfreiheit. Sie wollen sie zerstören. Wie die AfD in Deutschland wollen sie die Geschichte neu schreiben. Das, worauf man nicht stolz sein kann, wollen sie auslöschen, damit niemand daraus lernt. Wenn die Deutschen damit anfangen sollten, nicht mehr ihre eigene Geschichte zu konfrontieren, ist die Welt in Gefahr.
Hat Trumps Regierung bereits direkten Einfluss auf die Bildung?
Es gibt einige Bundesstaaten wie Florida, wo er schon ziemlich stark ist. Viele Elite-Universitäten haben die Argumente der Regierung nicht zurückgewiesen und damit im Grunde akzeptiert. Die Regierung möchte, dass es in jeder Fakultät Trump-Unterstützer gibt. Aber unsere Physikfakultät etwa hat bestimmt sehr wenige davon, unsere medizinische Fakultät ebenso. Sie wollen politische Meinungen in die Wissenschaft einfließen lassen. Wenn Universitäten das zulassen, ist alles vorbei.
Sie sagen, dann sei “alles vorbei”. Wie sehen Sie die USA aktuell?
Wir sind eine autokratisch regierte Nation. Wir sind noch nicht so weit wie Russland, auch nicht ganz so weit wie Ungarn, weil wir ein sehr großes Land sind. Aber wir sind schon jetzt keine Demokratie mehr.
Extremismus funktioniert auch über “Wir gegen die”-Rhetorik, die lässt sich in einem Zweiparteiensystem wie den USA fast nicht vermeiden. Trump beschimpft die oppositionellen Demokraten, sagt aber zugleich, er vertrete alle US-Amerikaner und bezeichnet seine Politik als common sense, als gesunden Menschenverstand. Wie passt das zusammen?
Er versucht, seine rechtsradikalen Positionen als common sense darzustellen. Er sagt, angebliche biologische Unterschiede zwischen Schwarzen und Weißen seien common sense. Und frühere gesellschaftliche Hierarchien seien common sense. Damit versucht er das Overton-Fenster zu verschieben, also solche Ansichten in den Mainstream zu rücken.
Sie beziehen sich auf ein Dekret Trumps, in dem er das rassistische Argument einer “biologischen Realität” der Unterschiede zwischen “Rassen” anführt. Es richtet sich gegen die unabhängige, gemeinnützige Stiftung Smithsonian Institute, die unter anderem die Museumsmeile in Washington, D.C. betreibt. Trump hat auf Basis dieser Begründung angeordnet, “falsche und rassenzentrierte Ideologie” aus den dortigen Museen, den Forschungsinstituten und Bildungsprojekten der Organisation zu entfernen …
… so wie alle Faschisten! Jeder weiß: Im Faschismus muss man die kulturellen Einrichtungen kontrollieren und sie zu Sprachrohren seiner Sache machen. Trump will patriotische Kunst sehen, und ist sie das nicht, möchte er sie verbieten. So wie alle Autokraten.
Kann er damit durchkommen?
Hoffentlich werden sie sich wehren.
Geschichte ist immer Interpretation …
… weil man nicht alle Tatsachen wissen kann. Irgendwann gab es einmal diesen Stein! Aber wichtige Fakten sind immer ideologisch aufgeladen. Politikgeschichte ist ein Kampf um Ideologien, in diesem Fall liberale und illiberale.
Wenn ich als Anwalt des Teufels aufträte, in diesem Fall von Trumps Regierung, könnte ich argumentieren: Die Historiker und anderen Forscher, auf deren Arbeit die von ihr abgeschafften Gleichstellungsmaßnahmen und die kritisierte Geschichtsschreibung basieren, waren zu schnell. Die Gesellschaft ist nicht bereit dafür. Wir müssen also wieder zu einem früheren Punkt zurückgehen, deshalb die Ausstellungen in den Museen verändern, die Geschichtsschreibung anpassen, und so weiter. Was würden Sie darauf erwidern?
Sie sprechen über zwei verschiedene Dinge. Eine Meinung ist: Das geht zu schnell. Die andere: Das ist alles falsch, wir müssen das Gegenteil behaupten. Also sagen, es war gut, dass wir den Indianern das Land weggenommen haben oder die Sklaverei nicht so schlecht war. Und aktuell geht es nicht um “zu schnell”, sondern es wird gesagt: Das war alles richtig, was wir in der Vergangenheit getan haben.
Und würden Sie “Das geht zu schnell” als Argument gelten lassen?
Es ist eine bekannte Position in der Geschichte der USA. Martin Luther King sagte (während der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren): Das Problem sind nicht die Rassisten, sondern die moderaten Weißen, die sagen, die Veränderungen gingen zu schnell. Viele Schwarze Schriftsteller und Intellektuelle haben ebenfalls darüber geschrieben, im Kontext der Sklaverei: Das Problem seien demnach diejenigen Schwarzen gewesen, die sagten, wir müssen warten, bis unsere Kinder oder Enkel erwachsen sind, und die werden frei sein, aber wir nicht. Und die Weißen meinten, es sei unvorstellbar, so schnell keine Sklaven mehr zu haben. Aber was aktuell geschieht, ist etwas anderes. Sie wollen in der Zeit zurückgehen. Make America Great Again.
Wie blicken Sie auf die Zukunft?
Elon Musk und Vizepräsident JD Vance sind sehr interessiert an ausländischen antidemokratischen Parteien. Wir werden mit den Wissenschaftlern Marci Shore und Timothy Snyder eine Forschungsgruppe an der Universität von Toronto bilden und Journalisten aus Ländern einladen, in denen die Demokratie zurückgedrängt wird, um Strategien zu diskutieren. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Aber es ist ein globaler Kampf.
In den USA gab es vor 15 Jahren das “Citizens United”-Urteil des Supreme Court über die Wahlkampffinanzierung, das praktisch alle Grenzen politischer Einflussnahme für Reiche und Konzerne entfernt hat. Es gab auch das Immunitätsurteil im Sinne Donald Trumps, der deshalb als Präsident mehr oder weniger machen kann, was er möchte. Sehen Sie noch einen Weg zurück?
Das halte ich für sehr schwierig. Der Supreme Court ist von Konservativen dominiert, und viele in der Justiz unterstützen Trump. Es fällt mir sehr schwer, in diesem Land eine demokratische Zukunft zu sehen.
Die Fragen und Antworten wurden zum besseren Verständnis redaktionell geglättet.
Mit Jason Stanley sprachen Irem Barlin und Roland Peters