Zurück im Land der Taliban | ABC-Z

Sakena war hochschwanger, als die pakistanische Polizei zum ersten Mal vor ihrer Haustür stand und sie aufforderte, das Land zu verlassen. Kaum war ihr Sohn geboren, kamen sie wieder. „Wenn ihr morgen nicht weg seid, werdet ihr bestraft“, sagten sie. Frühmorgens nach dem Gebet machte sich Sakena im Bundesstaat Punjab mit dem Neugeborenen und den Nachbarn auf den Weg.
Ihr Mann blieb zurück. Er versteckt sich, um den Transport des Hausstands zu organisieren, erzählt Sakena in einem Zelt der Internationalen Organisation für Migration (IOM) am Grenzübergang Torkham. Sie sitzt auf dem blauen Teppichboden, vor sich ein Pappteller mit Reis und Hühnchen. Auf dem Papier ist Sakena Afghanin. Aber sie ist in Pakistan geboren worden und war noch nie in Afghanistan. Noch hat sie nicht viel gesehen von dem Land außer den Taliban-Grenzwächtern, die so anders aussehen als die Polizei in Pakistan. Mit ihren buschigen Bärten und improvisierten Uniformen.
Ankunft am Nullpunkt
„Punkt Null“ nennen die Hilfsorganisationen das Gelände unmittelbar hinter der Grenze. Hier werden die Rückkehrer registriert und besonders Hilfsbedürftige wie allein reisende Frauen und Minderjährige identifiziert. Vom afghanischen Rückkehrministerium erhält jede Familie ein Willkommensgeld von umgerechnet 25 Euro. Der Taliban-Staat ist bemüht, sich als handlungsfähiger Kümmerer zu präsentieren. „Sie sind sehr engagiert und scheinen gut organisiert“, sagt IOM-Landesdirektorin Mihyung Park. „Aber ihre Ressourcen sind sehr begrenzt.“
Vor dem Container, in dem das Geld ausgezahlt wird, versucht ein Wärter Vordrängler mit einer Kabelpeitsche zurück in die Schlange zu beordern. Ältere Menschen werden in selbst gebauten Rollstühlen geschoben, Bündel mit Kleidern auf Schubkarren transportiert. Die besonders Hilfsbedürftigen werden zur Gesundheitsversorgung in das Transitzentrum der IOM gebracht, andere in Militärtrucks in ein nahe gelegenes Transit-Zeltlager der Taliban-Regierung gefahren.
Dort sitzt der Zarif Khan mit seiner Frau, Schwägerinnen und Kindern, umgeben von Fliegen und Müll. Der 28 Jahre alte Bienenzüchter ist zum ersten Mal in Afghanistan; sein Vater floh vor 45 Jahren vor dem Krieg gegen die sowjetischen Besatzungstruppen. Seine Bienen musste Khan zurücklassen. Sein Motorrad und seine Kühe verkaufte er in aller Eile weit unter Wert.
Pakistanische Gebrauchtwarenhändler sind die Profiteure des Exodus. „Seit 20 Jahren hören wir Ankündigungen, dass Pakistan uns abschieben will“, sagt Khan. „Bisher haben sie immer nur so lange Druck gemacht, bis das Ausland ihnen Geld gab. Diesmal ist es anders.“ Er will mit seiner Familie ins nahe gelegene Dschalalabad ziehen, weil es dort im Winter warm ist, sodass man kein Geld für Heizmittel braucht. Die Stadt platzt schon jetzt aus allen Nähten.
In einem anderen Zelt zeigt Bauer Abdul Wali ein Video von seinem erntereifen Weizenfeld, das er zurücklassen musste. Seit zwei Tagen wartet er vergeblich auf seinen Hausstand, für dessen Transport er bezahlt hat. Nun fürchtet Wali, dass er einem Betrüger aufgesessen ist. „Ich habe nicht einmal mehr eine Tasse, um Tee zu trinken.“
Bis zu Millionen Rückkehrer bis Ende des Jahres
Das Welternährungsprogramm (WFP) rechnet bis Ende des Jahres mit zwei Millionen afghanischen Rückkehrern – aus Pakistan und Iran. Denn Teheran zwingt ebenfalls Hunderttausende Afghanen über die Grenze. Das alles findet zu einer Zeit statt, in der die Hilfsgelder für Afghanistan drastisch zusammengeschrumpft sind. Der amerikanische Präsident Donald Trump hat, wie in anderen Teilen der Welt, einen Großteil der Zahlungen einstellen lassen. Mitte April haben die Mitarbeiter des WFP ihre „stop-work-order“ erhalten, sagt Kommunikationschef Philippe Kropf in seinem Büro in Kabul. „Bis dahin hatten wir noch die Hoffnung, dass jemand in Washington glaubt, dass die Linderung von humanitärem Leid in Afghanistan wichtig ist.“
Wegen der gestrichenen Gelder musste die UN-Organisation zum Beispiel die Behandlung von Kindern und Müttern mit Spezialnahrung um 60 Prozent reduzieren. Dabei gab es in diesem Jahr schon vorher den größten Anstieg von unterernährten Kindern in Afghanistan seit mindestens zehn Jahren. Nach der Machtergreifung der Taliban im August 2021 war die Wirtschaft zusammengebrochen. Es drohte eine humanitäre Katastrophe. Die hätten die USA damals noch „extrem großzügig gemeinsam mit anderen Gebern verhindert“, sagt Kropf. Doch schon seit 2023 schwindet die Bereitschaft der Geber. „Jetzt haben die Amerikaner den Stecker gezogen.“

Der Schweizer denkt mit Sorge an den nächsten Winter. Spätestens bis Juni müssen Nahrungsmittel eingekauft werden, damit sie vor dem ersten Schneefall in entlegene Gegenden gebracht werden können. „Wir planten, sechs Millionen Menschen über den Winter zu bringen. Dafür haben wir jetzt kein Geld mehr.“ Das gilt auch für das Startgeld von umgerechnet 70 Euro, das bisher alle Rückkehrerfamilien für Nahrungsmittel für den ersten Monat erhielten.
Ähnlich dramatisch sind die Einschnitte bei der IOM. Sie musste Gesundheitszentren, einkommensschaffende Maßnahmen und Unterkünfte für Rückkehrer schließen. Auch die Zahlungen von Mieten für die ersten drei Monate nach der Rückkehr fallen weg. Bislang übernahm die IOM auch die Transportkosten der Rückkehrer von der Grenze in ihre Heimatorte. Jetzt reicht das Geld nur noch für 15 Prozent von ihnen. Manche sind gezwungen, ihre Handys zu verkaufen, um überhaupt bis an ihren Zielort zu kommen. „Dieses Land hat wirtschaftlich schon jetzt zu kämpfen“, sagt IOM-Landesdirektorin Park. So viele Menschen zu absorbieren ist eine große Bürde.“
Rückkehrer haben kaum Perspektiven
Je mehr Afghanen zurückkehren, desto weniger Geld wird von Arbeitern aus dem Ausland überwiesen, um die darbende Wirtschaft zu stabilisieren. Die meisten Rückkehrer aus Pakistan seien mehr als 20 Jahre dort gewesen, sagt Park. „Sie haben kein soziales Netzwerk, keinen Ort, an den sie gehen könnten.“ Die Folgen, sagt sie, werde nicht nur Afghanistan zu spüren bekommen. „Wenn Leute in ein Gebiet zurückkehren, in dem sie keine Einkommensmöglichkeiten, kein richtiges Gesundheitssystem und keine richtige Bildung für ihre Kinder haben, gibt es nur die Option, das Risiko auf sich zu nehmen, wieder ins Ausland zu gehen.“
Fachleute rechnen außerdem damit, dass die Zahlen der Kinderhochzeiten, der bettelnden Kinder und der aus Not verkauften Organe zunehmen. „Negative Bewältigungsstrategien“ heißt das in der Sprache der Hilfsorganisationen. Die Taliban befürchten, dass die Perspektivlosigkeit der Terrormiliz „Islamischer Staat“ Zulauf verschaffen könnte, was nicht nur für Afghanistan, sondern auch für den Westen ein Problem wäre.

Mit seinem Vorgehen versucht Pakistan, die Taliban unter Druck zu setzen. Das Land wirft den Islamisten vor, den Kämpfern der Terrorgruppe TTP Rückzugsräume zu gewähren. Im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Terrorangriffe in Pakistan gegenüber dem Vorjahr um 70 Prozent. Auch die Annäherung Afghanistans an den Erzfeind Indien beobachtet Pakistan mit Sorge. Zudem hat man in Islamabad mitbekommen, dass in Europa die Stimmung gegenüber Migranten gekippt ist. Von Appellen aus dem Westen lässt man sich nicht mehr beeindrucken.
Das gilt auch für Iran, das während der mehr als 40 Jahre wütenden Kriege ebenfalls Millionen Flüchtlinge aus dem Nachbarland aufgenommen hat. Im September 2024 kündigte Teheran an, zwei Millionen Afghanen ohne gültige Papiere in das nunmehr befriedete Afghanistan abschieben zu wollen. Die Zahl ist inzwischen fast erreicht.
Lange waren Afghanen in Iran willkommen
Jeden Tag kommen am Grenzübergang Islam Qala 3000 Rückkehrer an. Der Ort liegt im Westen Afghanistans, eine Tagesreise von Torkham entfernt. Doch während in Islam Qala auf der einen Seite die Busse mit den Abgeschobenen über die Grenze kommen, stehen auf der anderen Seite schon wieder Dutzende Schlange, um nach Iran einzureisen. Ein Widerspruch? „Migrationspolitik wird oft für die öffentliche Wahrnehmung gemacht“, sagt IOM-Landesdirektorin Park. Der Bedarf auf dem Arbeitsmarkt ist nach wie vor hoch.
Lange waren Afghanen in Iran relativ wohl gelitten. Vor allem der schiitischen Minderheit bot sich das schiitische Regime in Teheran als Schutzmacht an. Irans Bau- und Landwirtschaft profitierten von den billigen Arbeitskräften. Die Mittelschicht beschäftigte afghanische Haushaltshilfen und Altenpflegerinnen. In Syrien setzte Teheran Afghanen als Kämpfer ein. Von Hilfsorganisationen wurde das Land dafür gelobt, dass es allen afghanischen Kindern, auch solchen ohne Papiere, den Zugang zu Schulen ermöglichte.
Doch seit einiger Zeit wächst die Fremdenfeindlichkeit. Viele Rückkehrer berichten von ständigen rassistischen Beleidigungen auf offener Straße. „Das hat mit dem Wettbewerb um Arbeit zu tun“, sagt ein Tagelöhner. „Iranische Arbeiter leiden unter der Wirtschaftskrise. Und Afghanen arbeiten für weniger Geld.“

Der Maurer Sayyed Sharafuddin hat 30 Jahre seines Lebens in Iran verbracht. Seine Kinder sind dort geboren. Lange habe er sich wohl gefühlt, aber inzwischen würden für alle Verbrechen Afghanen verantwortlich gemacht. Ständig sei er an seinem Arbeitsplatz von staatlichen Kontrolleuren schikaniert worden. „Es ist besser, in meinem eigenen Land zu sterben, als ständig beleidigt zu werden“, sagt er. Für die Ausreise musste er sich mit seiner Familie in ein Abschiebezentrum begeben. Dort wurden von allerlei Behörden Gebühren erhoben, von denen Sharafuddin selbst nicht weiß, wofür eigentlich. Jedenfalls war er am Ende um 700 Euro ärmer. Andere sprechen von ähnlichen Summen.
„So wollten sie uns klarmachen, dass wir nie mehr zurückkommen sollen“, sagt Sharaffudin. Aus dem gleichen Grund hätte man sie stundenlang ohne Grund in der Hitze stehen lassen, glaubt er. Sogar die Busfahrten für eine Abschiebung von Teheran nach Maschhad und dann zur Grenze hätten sie, zu einem überteuerten Preis, bezahlen müssen. Auf der stundenlangen Fahrt ohne Essens- noch Toilettenpausen sei ein zweijähriges krankes Kind verstorben. Die Eltern hätten vergeblich versucht, seinen Tod geheim zu halten, um ohne weitere Schikanen über die Grenze zu kommen. Am Ende sei er fast froh gewesen, zurück in Afghanistan zu sein, sagt Sharafuddin. „Sobald wir hier waren, wurden wir respektvoll und freundlich behandelt.“
Die Taliban sind nicht die größte Sorge
Er meint damit die Hilfsorganisationen – und die Taliban. Keiner der Rückkehrer aus Pakistan und Iran spricht an der Grenze über Ängste vor den Islamisten. „Ihre größte Sorge ist, ob sie einen Job finden“, sagt ein Mitarbeiter des Norwegischen Flüchtlingsrats. Die zweitgrößte sei, die Kinder in die Schule zu bekommen. Wenn sie in Iran geboren sind, ist das oft schwierig. „Weil sie keine Geburtsurkunde haben, können sie ihre Kinder nicht einfach in der Schule anmelden.“ Vor allem in höheren Stufen müssen die Jungen außerdem nachweisen, dass ihr Wissen mit dem ihrer Mitschüler vergleichbar ist. Die entsprechenden Dokumente des iranischen Bildungsministeriums müssen sie mühsam beschaffen. Der Flüchtlingsrat hilft dabei. Mädchen dürfen dagegen auf Anweisung der Taliban keine weiterführende Schule besuchen.
In einer großen Halle am Grenzübergang Islam Qala hält eine Helferin einen Vortrag vor einer Gruppe von Frauen, Männern und Kindern. Es ist laut, die Kinder quengeln, die Eltern sehen erschöpft aus. „Ohne Personalausweis können sie keine SIM-Karte kaufen“, ruft die ausgebildete Juristin. Dann verteilt sie Broschüren mit Telefonnummern für spätere Beratungsanfragen, etwa zu Landrechts- und Erbfragen. „Nach der langen Reise kann man nur fünf Minuten lang Informationen geben“, erklärt sie.
Nach den Regeln der Taliban darf kein Mann ihren Job übernehmen und die Frauen in der Halle ansprechen. Gleichzeitig haben die Islamisten im Dezember verkündet, dass sie alle Organisationen schließen würden, die Frauen beschäftigen. Die Grauzone zwischen diesen widersprüchlichen Positionen nutzen die Hilfsorganisationen. Sie sind weiterhin die wichtigsten Arbeitgeber für Frauen in Afghanistan. Frauen zu beschäftigen ist aber teuer und aufwendig. Wegen des Alleinreiseverbots für Frauen wird die Juristin auf der 2,5 Stunden langen Autofahrt von Herat nach Islam Qala jedes Mal von ihrem Bruder begleitet.
Wenn die Rückkehrer sie zwei Monate später kontaktieren, haben die meisten noch immer keine Arbeit gefunden. So wie der Bauarbeiter Ahmad, der in Herat im Garten einer Hilfsorganisation sitzt. „Ich laufe den ganzen Tag rum und frage in jedem Geschäft nach.“ Seine Ersparnisse sind fast aufgebraucht. Jetzt wollen die Behörden ihm und seiner Familie den Strom abstellen. Seine siebzehnjährige Tochter, die in Pakistan in der zehnten Klasse war, habe das Haus noch kaum verlassen. Und er regt sich auf, dass die Taliban ihn aufgefordert haben, sich einen Bart wachsen zu lassen. „Ich weiß nicht mehr weiter“, gesteht er und nestelt nervös an seiner Gebetskette. „Ich überlege schon, zurück nach Iran zu gehen.“