Insektensterben: Forscher sehen keinen Rückgang – Wissen | ABC-Z

Als die Mitglieder des Krefelder Entomologischen Vereins 2017 nach jahrzehntelangen Zählungen erstmals einen massiven Rückgang der Insekten wissenschaftlich belegen konnten, war das Echo gewaltig. Ihre „Krefelder Studie“ katapultierte das Thema über Nacht aus den wenig beachteten Fachzirkeln auf die Titelseiten von Zeitungen, in Talkshows und auf die politische Bühne. Die große Koalition aus Union und SPD brachten als Konsequenz 2021 ein Insektenschutzgesetz auf den Weg. Derzeit arbeiten die Forscher an einer Fortschreibung der Studie, die im kommenden Jahr veröffentlicht werden soll. Der Vorsitzende des Vereins, Thomas Hörren, über neue Erkenntnisse zum Ausmaß des Insektenschwunds und politische Schlussfolgerungen.
SZ: Herr Hörren, wie steht es heute um das Insektensterben in Deutschland?
Thomas Hörren: Es gibt leider keine Hinweise auf eine Erholung der Insektenbestände in den vergangenen Jahren. Im Gegenteil: der Einbruch vieler Insektenpopulationen setzt sich fort.
Worauf stützen Sie diese Einschätzung?
Wir haben unsere Messungen seit ‚Krefeld 1‘ deutlich ausgeweitet. Bis heute haben wir weit über 600 neue Untersuchungsstandorte einbezogen, an denen wir mit denselben Methoden die Biomasse von Fluginsekten gemessen haben. Überwiegend sehen wir dort sehr niedrige Biomassewerte unter Insekten. Und das – erneut – auch in Naturschutzgebieten. Wir kennen keinen einzigen Standort mehr, an dem wir aktuell noch ähnliche Biomassewerte finden, wie wir sie zu Beginn unserer Untersuchungen Anfang der 90er-Jahre gemessen haben.
Können Sie das mit Zahlen belegen?
1990 lagen wir noch bei etwa zehn Gramm Insekten pro Tag und pro Falle. Heute sind es im Mittel gerade noch 1,3 Gramm. Der Trend scheint auch nicht nur regional begrenzt zu sein. Denn anders als für ‚Krefeld 1‘ haben wir in den vergangenen Jahren nicht nur in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz Proben genommen, sondern in elf Bundesländern.
In welchen Lebensräumen sind die Verluste am größten?
Hier sind unsere Analysen noch nicht abgeschlossen, aber ich kann sagen, dass viele bedeutsame Lebensräume besonders stark vom Rückgang betroffen sind. Das betrifft etwa die eigentlich besonders insektenreichen Heiden, Kalkmagerrasen-Wiesen oder auch Moore.
Die EU wollte durchsetzen, dass der Einsatz von Insektengiften in der Landwirtschaft bis 2030 um die Hälfte verringert wird. Unter dem Druck der Bauernproteste wurde dieser Plan kassiert. Wie groß ist die Rolle der Pestizide beim Insektensterben?
Insektizide werden eingesetzt, um Insekten zu schädigen. Das ist ihr Zweck. Es gibt inzwischen sehr gute Übersichtsstudien, die zeigen, wie Pestizide auch solche Organismen schädigen, die nicht Ziel des jeweiligen Mittels sind. Pestizide sind neben den Nährstoffeinträgen durch Dünger eines der ganz großen ökologischen Probleme – und das auf enormer Flächen in unserer Landschaft.
Heißt das konkret, dass wir einen Puffer zwischen Flächen mit Pestizideinsatz und Naturschutzgebieten brauchen?
Wir brauchen entweder Pufferzonen, in denen nicht gespritzt wird, oder eine räumlich angepasste Strategie mit Auflagen dazu, wie in der Nähe und natürlich auch innerhalb von Naturschutzgebieten Landwirtschaft betrieben wird. Beides gibt es derzeit kaum. Wir haben in einer Studie nachgewiesen, dass Dutzende Pestizid-Wirkstoffe aus der angrenzenden Landwirtschaft bis in die Kernzonen der Naturschutzgebiete vordringen. Das hat Folgen für das ganze Ökosystem – für Vögel, Pflanzen und Böden. Solange wir die Risiken durch Pestizide nicht in unsere Landschaftsplanung integrieren, solange werden wir auch keine Erholung in der Biodiversitätskrise erreichen.
In diesem Wochen formiert sich eine neue Bundesregierung. Was muss sie tun, um das Insektensterben zu stoppen?
Wir müssen klar feststellen, dass das Insektenschutzprogramm der Bundesregierung nichts gebracht hat. Es klingt banal, aber: Der Schutz der Biodiversität muss im Bundesnaturschutzgesetz Vorrang vor anderen Interessen haben. Und: Der Erhalt von biologischer Vielfalt muss erste uneingeschränkte Priorität vor Land- und Forstwirtschaft in Schutzgebieten haben. Damit wäre schon viel erreicht. Wenn sich Schutzgebiete aber in der Praxis kaum von der sonstigen Landschaft unterscheiden, müssen wir uns nicht wundern, wenn sie ihren Zweck nicht erfüllen. Die Frage ist also: Wie ernst nimmt die nächste Bundesregierung die von Deutschland unterschriebenen internationale Abkommen zum Erhalt von biologischer Vielfalt wirklich?