Europa investiert in militärische Verteidigung und Ukraine-Solidarität – Politik | ABC-Z

Es ging auf Mitternacht zu, und Olaf Scholz war beleidigt. Warum er an diesem Donnerstag seinen mutmaßlichen Nachfolger Friedrich Merz nicht zum Ukraine-Sondergipfel der EU in Brüssel „mitgenommen“ habe, wollte in der Pressekonferenz jemand vom Bundeskanzler wissen. Angela Merkel habe ihn doch vor vier Jahren auch zum G-20-Gipfel in Rom „mitgenommen“. Das war zu viel für Scholz.
Er hätte einfach antworten können, dass er damals als Finanzminister zu den G20 nach Rom reiste, Merz aber nur Oppositionsführer sei. Und den könne man schon aus protokollarischen Gründen nicht an den Tisch der Staats- und Regierungschefs setzen. Aber Scholz spielte eine gefühlte Ewigkeit lang den Fassungslosen: Wie man denn so eine Frage überhaupt stellen könne?
Die meisten empfinden die deutsche Politikwende als Befreiung
Das war kein souveräner Auftritt, aber man konnte den Bundeskanzler auch verstehen: Scholz hatte Merz im Huckepack, ob er das wollte oder nicht. Denn das beispiellose Investitionsprogramm, auf das sich Merz in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD geeinigt hat, vor allem der Plan zur Aufrüstung der Bundeswehr, war in Brüssel das Gipfelthema schlechthin. Es ist die Tragik des SPD-Kanzlers Scholz, dass demnächst ein CDU-Kanzler Merz wohl sozialdemokratische Europapolitik in Reinform betreiben kann.
Nur ein kleiner Rest von sparsamen Staaten wie Österreich oder die Niederlande fühlt sich von Deutschland im Stich gelassen. Die anderen empfinden die Politikwende als Befreiung für die ganze Europäische Union, als das Beste, was Europa passieren konnte nach dem historischen Eklat im Weißen Haus vor einer Woche, der zu signalisieren schien: US-Präsident Donald Trump sucht die Nähe zum russischen Diktator Wladimir Putin und lässt die Ukraine fallen – und mit ihr lässt er ganz Europa fallen.
Scholz wies in Brüssel mehrmals darauf hin, dass in Deutschland nun genau das passiere, was er immer gefordert habe und weshalb er seine Ampelkoalition platzen ließ: Das Land müsse seine Schuldenbremse lockern. Deutschland, das größte und reichste Land der EU, habe sich selbst „gefesselt“ und sei nun dabei, sich zu „entfesseln“. Das entfesselte Deutschland sollte zum Vorbild für die Entfesslung Europas werden, sagte Scholz. Die EU müsse nach Wegen suchen, noch mehr Geld für Investitionen in die militärische Verteidigung der EU lockerzumachen.
Es sind erst einmal nur große Zahlen, auf die man sich in Berlin und in Brüssel geeinigt hat. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kam mit ihrer Schwäche für imposante runde Summen auf 800 Milliarden Euro, die Europa zusätzlich für Verteidigungsausgaben mobilisieren könne. Der konkreteste Teil der Rechnung ist ein EU-Fonds in Höhe 150 Milliarden Euro, der nach allgemeiner Einschätzung bei Weitem nicht reichen wird. Hinzuaddiert hat von der Leyen Beiträge der Europäischen Investitionsbank und privates Kapital sowie Investitionen der Mitgliedstaaten, die möglich werden, wenn die EU ihre Schuldenregeln lockert.
Der Ukraine helfen diese großen Zahlen in ihrem Abwehrkampf gegen die russische Armee kurzfristig nicht. Dabei bräuchte sie dringend Ersatz für die Waffenhilfe aus den USA, die Trump diese Woche ausgesetzt hat. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas wollte noch vor diesem Gipfel 20 Milliarden Euro für Waffen und Munition bei den Mitgliedstaaten lockermachen. Das hat aber nicht geklappt.
Wolodimir Selenskij konnte aus Brüssel vor allem Zeichen der langfristigen Solidarität mitnehmen. Die EU betrachtet ihn, anders wohl als Trump, weiterhin als legitimen ukrainischen Präsidenten. Sie will, falls es demnächst zu Verhandlungen mit Russland kommt, darauf pochen, dass die Ukraine als souveräner Staat erhalten bleibt und sie dafür im Rahmen eines umfassenden Friedensvertrags Sicherheitsgarantien erhält. Frankreich und Großbritannien bieten an, Truppen zur Friedenssicherung zu entsenden. Olaf Scholz legt den Fokus mehr darauf, dass die Ukraine langfristig eine schlagkräftige Armee braucht. Für deren Finanzierung, sagt der Kanzler, werde Europa sehr lange sehr viel Geld aufbringen müssen.
Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán stimmte zwar den Aufrüstungsplänen zu, verweigerte sich aber der Ukraine-Strategie, die den Titel „Frieden durch Stärke“ trägt. Deshalb wurde sie der Gipfelerklärung im Namen von 26 der 27 Staats- und Regierungschefs als Anhang beigefügt. Man mag das als Indiz der Spaltung werten, in der EU empfinden es die meisten als überfällige Klärung: Der Ungar, der sich als europäischer Statthalter von Donald Trump benimmt, steht ganz allein.
Macron will die Dinge im persönlichen Gespräch klären
Europa ist nicht untergegangen – das ist die Botschaft, eine Woche nach dem Eklat im Weißen Haus. Europa versucht, sich freizuschwimmen. Momentan gibt es kein Anzeichen dafür, dass Trump die EU in Waffenstillstandsverhandlungen einbeziehen will. Aber keine Sorge, der französische Präsident Emmanuel Macron hat sich selbstverständlich bereit erklärt, die Dinge im persönlichen Gespräch mit Donald Trump zu klären – und notfalls auch mit Wladimir Putin.
Mit diesem Sendungsbewusstsein geht Macron manchen seiner Kolleginnen und Kollegen auf die Nerven, vor allem der Italienerin Giorgia Meloni. Sie würde Trump lieber umschmeicheln, als ihm auf Augenhöhe entgegenzutreten. Aber Macron hat die Führung übernommen. Er hielt eine dramatische Fernsehrede, in der er Europa auf den Kampf gegen die „russische Bedrohung“ einschwor, die es ohne amerikanische Hilfe abzuwehren gelte. Er schloss einen Bund mit dem britischen Premierminister Keir Starmer als Chef der zweiten europäischen Atommacht. Er gewann den deutschen Transatlantiker Friedrich Merz für sein Konzept der „europäischen Souveränität“ und verwickelte ihn sogar in eine Debatte darüber, ob Deutschland sich unter den Schutz des französischen Atomschirms begeben könnte.
Nun scheint Friedrich Merz bereit zu sein, das französische Sendungsbewusstsein von Emmanuel Macron mit deutschem Geld zu unterlegen. Dahinter steht auch die Hoffnung, Donald Trump möge verstehen: Dieses Europa muss man ernst nehmen.