Ausstellung Wolfgang Tillmans im Dresdner Albertinum | ABC-Z

Einer der Glaubenssätze des weltweit ausstellenden Fotografen Wolfgang Tillmans lautet: „Wenn auch nur ein Detail oder ein Teil zählt, zählt alles“. Es ist zugleich eine Grundüberzeugung der deutschen Romantik, dass ein präzise beobachtetes Detail hochskalierbar ist, für das Ganze stehen kann, etwa im Blatt eines Baumes oder einem Grashalm der Bauplan der gesamten Natur, das Göttliche schlechthin seiner Enthüllung entgegen schlummert. Tillmans’ phantastische Ausstellung „Weltraum“ im Dresdner Albertinum mit ihrem enzyklopädischen Bilderkosmos aus fast vier Jahrzehnten und bislang ungezeigten, seit 2022 entstandenen Arbeiten ist der Beleg, dass der Fotograf ein – glücklicherweise – unverbesserlicher Romantiker ist.
Ausweis der zwei Herzen Ratio und Romantik in Tillmans’ Brust sind schon seine traumschönen Wolkenbilder. Auf dem größten davon, sehr gut platziert zwischen quirligen Kleinformaten als optisch beruhigendes Sehnsuchtsvehikel, sieht man nur überirdisches Weiß. Es ist der magische Moment des Durchstoßens der Wolkendecke im Flugzeug, wenn die Augen kurz in Watte gepackt werden und man für Sekundenbruchteile zweifelt, ob dies nicht vielleicht doch schon der vielzitierte Lichttunnel bei Nahtoderlebnissen sei.
Das zweite Wolkenbild versetzt Caspar David Friedrich, Carl Gustav Carus und Johan Christian Clausen Dahl abermals in ein Flugzeug. Es arretiert den beinahe surrealen Moment in feste Form, wenn nur die Rauchfahne eines ansonsten unsichtbaren Fabrikschlots durch die Wolkendecke stößt und der ebenfalls wolkenweiße Dampf wie ein Zuckerkringel auf einer Baisertorte aufragt.
Die astronomische Vielfalt dieses Bilderkosmos jeden Formats und Sujets könnte schon in dem riesigen Korridor nach dem Entrée, der wie der Spiegelsaal von Versailles mit Bildern anstelle von Spiegeln wirkt, erschlagen. Doch spürt und sieht man auf den ersten Blick, dass in den Landschaften, Rosenkohl-Stillleben und intimen Porträts alles mit allem zusammenhängt und in Farbe, Textur oder eben oft nur einem Motivdetail Kontexte und Dialoge bildet.
Formal finden sich beispielsweise zwischen zwei mehrere Meter großen Formaten viele kleinere, wie Sternenhaufen im Weltall, die miteinander bestimmte Konstellationen bilden, nie aber spannungsarm auf Linie oder auf einer Höhe gehängt sind. Dazwischen hängt dann etwa noch ein ganzes Stück über den großen Bildern ein kleiner Ausreißer einer abstrakten Faltung, der den Blick nach oben zieht. Er bändigt so die meterhohen Räume mit größter Sensibilität für den Ort.

Ebenso sensitiv hat er anlässlich seiner Ausstellung ein außergewöhnliches Künstlerbuch entwickelt, das seine Werke direkt in den Zeitstrahl deutsch-deutscher Vergangenheit und Gegenwart taucht. In „Things matter, Dinge zählen“ knüpft Tillmans an einen bereits bestehenden Dialog an: Für seinen Katalog „If one thing matters, everything matters“, den er 2003 für die Tate Britain konzipierte, griff er Format und Gestaltung des Bestandskatalogs der Dresdner Gemäldegalerie Neue Meister von 1987 auf, in der erstmals Provenienzen angegeben wurden und die Tillmans nun aufgeschlagen in die Vitrine legt mit dem Verweis auf den zu Unrecht fast vergessenen Maler Carl Lohse. In seinem eigenen Künstlerbuch erinnert er an beide Publikationen, indem er Auszüge aus ihnen wiedergibt und zusammen mit seinen Arbeiten der letzten zwanzig Jahre auf den Buchseiten erneut dichte Konstellationen schafft.

Wie bei Friedrich als gutem Geist des Albertinums kann aber auch auf Tillmans’ Aufnahme „Lagos Still Life II“ urplötzlich und auf einer Frucht nahezu unsichtbar eine kleine Libelle erscheinen, oder auf „Rain Splashed Painted Life“ von 2022 – scheinbar – ein fehlfarben ockergelber Sonnenuntergang über Bambusgesträuch wie auf einer Fototapete der Siebzigerjahre. Vertieft man sich jedoch in das fesselnde Querformat von mehreren Metern Breite, erkennt man bald, dass es sich bei dem Pseudo-Sonnenuntergang um eine verputzte Wand irgendwo am anderen Ende der Welt handelt, auf die der tropische Regen über Jahre hinweg Schlamm spritzte.
Im schlammbraun-grünen Unterholz zwischen den Bambusschösslingen blitzen drei Farbtupfer auf, eine intensiv magentafarbene Bougainvillea in der Mitte, eine weiße Blüte links und eine transparente zerknüllte Plastikfolie rechts, die aber im Gegensatz zu den Pflanzen in malerischer Unschärfe versinkt.
Die malerischen Effekte sind vom Künstler gewollt. Tillmans druckt das Foto auf einem Papier aus, das die Farbe stärker aufsaugt und die Flächen teils kreidig wie ein mit Acryl gemaltes Wandbild erscheinen lässt. Nicht nur erweckt damit eine Wand den Eindruck eines Sonnenuntergangs, das Foto der Wand selbst thematisiert Wandmalerei mit Mitteln der Malerei – für Tillmans der Weg des Bildermachens in der zeitgenössischen Kunst, das sich nie in einem Entweder-Oder von Fotografie und Malerei erschöpfen darf, sondern beides sein kann – Lichtmalerei mit der Linse eben.

Neben dieser Thematisierung dessen, was ein Bild alles vermag, hängt quasi altmeisterlich abgelichtet ein nepalesischer Junge vom Lande im grob karierten Holzfällerhemd, der sich in einem städtischen Hotel hochzuarbeiten sucht; rechts von ihm wirkt die Raumecke wie eine aufgemalte Linie auf einer Fläche, der rembrandteske Schatten des Knaben besitzt ein unüblich reiches Innenleben: Hals und Teint des Gesichts sind deutlich heller und differenzierter als sein Rumpf mit Hemd und Kragen – Tillmans schafft es damit wie Rembrandt, selbst noch dem Schatten ein Gesicht einzuzeichnen.
Gemeint sein können mit dem Titel natürlich auch Weltenräume und der Welt-Raum, mithin Orte des Welthaltigen voller Details, ebenso wie konkrete Räume in der Welt und damit der Menschen. Womit man wieder bei Tillmans‘ ureigenstem Thema wäre, dem Versuch, Beziehungen zwischen Menschen, und sei es über Kontinente hinweg, sichtbar zu machen, also etwas so komplexes wie Empathie und Zwischenmenschliches in unkitschige Bilder und Porträts zu übersetzen, wie ihm das mit dem von ihm verehrten George Michael gelang, den er in einem scheinbar unbeobachteten Moment völlig nahbar festhält.

Dabei ist Tillmans kein Fotograf des Momentum. Nie lichtet er beliebige Einzelmomente ab, sondern baut seinen visuellen Kosmos aus vielen lange beobachteten „Sternen“ zusammen. Bisweilen benötigt ein Foto Jahre bei ihm, bis es erstmals gezeigt wird, mithin reif für eine Ausstellung im konstellativen Reigen dann miteinander in guter Nachbarschaft agierender Bildzwillinge ist. Insofern spielt der einmal enorm dehnbare, dann wieder zusammenschnurrende Faktor Zeit in Tillmans „Weltraum“ wie im All eine zentrale Rolle. Immer beherzigt er dabei: Entscheidend ist das Bewusstsein um den Wechsel vom dreidimensionalen Gegen-Stand vor uns und dessen zweidimensionalem Ab-Bild.
Ersteres fängt er mit den im Dunkeln gefalteten Fotopapier-Arabesken der „Lighter“-Serie ein, die sich in den Raum wölben, mit der teils fast bis zur Decke raumgreifenden Hängung der Ausstellung sowie mit den Tischvitrinen seines „Truth Study Centre“-Archivs, die den Besucher zur Interaktion animieren und gewissermaßen in sein Reich der Bilder hineinziehen. Das Zweidimensionale hingegen betont er mit manchem betont flach gehaltenen Motiv wie etwa dem rein weißen Wolkeninneren.

Und auch unsere Anschauung des Kosmos bleibt notwendigerweise immer abstrakt, Sterne etwa bilden sich fotografisch nur als unansehnliche weiße Punkte ab. In einem wunderbar poetischen Film aber verwandelt Tillmans mittels derangierter Linse eines Teleskops, das ihn als visuelles Instrument und Sehverstärker seit seinem zehnten Lebensjahr begleitet, den Fixstern Sirius in ein Feuerwerk aus Farben und bis hin zum Schlüssellochumriss changierenden Formen. Wenn er „manipuliert“, dann nur per Hand an einer seiner vielen Kameras, nie digital.
So ist es nur konsequent, dass er auch der Physikalität des Digitalen in handfesten Bildern nachspürt. Nach Jahren in San Francisco und einer Schau im dortigen MoMA durfte er in die metallenen Gehirne des nahen Silicon Valley eindringen und dokumentierte hier in der staubigen Wüste die tannengrün lackierten gigantischen Luftfilter und ebenso riesigen Notstrombatterien von Nvidia, die selbst nur Millisekunden andauernde Stromausfälle sofort überbrücken. Die Gewalt des digitalen Zeitenbruchs wird so manifest spürbar, auch wenn das KI-Gewese in den Apparaten unsichtbar und abstrakt bleibt.

Dabei ist der Künstler selbst im Abstrakten immer erzählerisch. Auf dem wie ein niederländisches Stillleben kombinierten Hochformat „Office Paper for Food Wrapping Recycling Addis Abeba“ von 2019 richtet der Künstler unseren Blick auf meterhohe Bündel von Papieren, die links von stark farbigen Plastikfolien abgeschlossen werden. Um Verpackungsmaterial zu sparen, wird in Äthiopien Essen in Büroakten, banales Altpapier, aber auch in Notizen medizinischer Anamnese mit privatesten Informationen eingewickelt, die man angesichts der erstaunlichen Schärfe und Auflösung bis hinter den Millimeterbereich hinein noch entziffern kann. Semiabstrakt und malerisch flächig leuchten die Papierbündel in unterschiedlich warmen und kalten Tönen, weil die Akten mit optischem Aufheller von der Kamera in kühl bläulichem Licht wiedergegeben werden, während jene ohne Aufhellung gelblich erscheinen.
Im letzten Saal schließt Tillmans den Kreis, wenn auf einem Stillleben neben einem blauen Spielzeug-Erdball die winzige Samenkapsel einer Birke liegt. In diesem künftigen Baum wiederum schlummert der Bauplan für Großes, ein Teil des immensen Weltenraums.
Wolfgang Tillmans. Weltraum. Albertinum, Dresden; bis zum 29. Juni. Ein Künstlerbooklet kostet 8 Euro.