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Im Traum gehörst du mir | ABC-Z

Zwei Frauen in Hollywood, ein Filmset, ein blaues Kästchen, ein langer Schlüssel in Dreiecksform, ein Nachtclub namens „Silencio“, ein Mann mit Cowboyhut. Das ist der Stoff für eines der größten Kinorätsel unserer Zeit. Alle Filme und Serien des vor drei Wochen gestorbenen David Lynch fordern den Zuschauer heraus, ihre Zeichen zu lesen, aber keiner hat so viele Deutungsversuche, Seminararbeiten und Internetkommentare auf den Plan gerufen wie „Mulholland Drive“ von 2001. Allein die Interpretationen, die man auf Youtube abrufen kann, übertreffen die Länge des Films um ein Vielfaches, und wenn er nicht schon zum besten Spielfilm des 21. Jahrhunderts gewählt worden wäre, müsste man ihm jetzt, nach dem Tod des Regisseurs, endgültig ein Denkmal setzen.

Die meisten Deutungen stimmen darin überein, dass die Geschichte, die der Film in seinen ersten zwei Stunden erzählt, ein Traum der Schauspielerin Diane Selwyn (Naomi Watts) ist, während die letzten zwanzig Minuten ihr wirkliches Leben zeigen, das sich in einen Albtraum verwandelt. In dieser Wirklichkeit ist Diane unglücklich in ihre erfolgreiche Kollegin Camilla (Laura Herring) verliebt, während die Traumerzählung, in der sie in die Rolle einer vielversprechenden Newcomerin schlüpft, die in ihrem Apartment eine Frau ohne Gedächtnis mit den Gesichtszügen ihrer Geliebten entdeckt, von Dianes erotischen Wünschen angetrieben wird. Allerdings brechen in diese Wunschwelt immer wieder Figuren aus ihrer Lebenswelt ein, deren Schicksale die Träumende weiterspinnt, etwa ein Filmregisseur, dessen Projekt von ei­nem Verbrechersyndikat finanziert wird, oder ein Killer, der bei einem seiner Auftragsmorde zwei unbeteiligte Menschen erschießt. Und es gibt eine Reihe kurzer Momente, in de­nen das Gewebe der Traumphantasie Löcher bekommt und der Angstmechanismus dahinter durchscheint. Drei von ihnen seien hier beschrieben, weil sie den Film erst zu dem machen, was er ist.

Der erste ist ein Lächeln, das gefriert. Auf dem Flug von Kanada nach Los Angeles hat Dianes Traumalias Betty eine ältere Frau kennengelernt, Irene, die sie bei der Ankunft herzlich verabschiedet. Dann sitzt Irene mit ihrem Ehemann im Taxi, sie lachen und fahren, aber das Gesicht der Greisin entspannt sich nicht. Ihr Lächeln wird starr, während die Augen erkalten, es gleicht dem Zähneblecken eines Roboters. Jeanne Bates, die Darstellerin Irenes, war in den Sechzigern ein bekanntes Fernsehgesicht, in „Twilight Zone“ spielte sie in ei­ner Episode mit, in der ein kindlicher Dämon die Bewohner eines Dorfes in grinsende Zombies verwandelt. Die Film­ge­schich­te ist bei Lynch immer präsent, sie lauert unter der Oberfläche der Bilder wie das abgeschnittene Ohr unter dem Grün des Rasens in „Blue Velvet“.

Der zweite Moment ist eine Kamerabewegung. Betty darf in L. A. das lauschige Apartment ihrer Tante bewohnen, aber der Blick, mit dem Peter Demings Kamera den Korridor erkundet, hat nichts Idyllisches. Er erinnert an die Kamerafahrten durch das Haus des Mörders in „Lost Highway“, und wie diese führt er unverwandt ins Dunkle. So blicken keine Menschen, so schaut ein Auge, das nicht mehr von dieser Welt ist. Aber Betty strahlt im Glanz des Vorgefühls. Dann öffnet sie die Tür zum Bad, und vor ihr, nackt hinter dem trüben Glas der Dusche, steht die Frau ohne Gedächtnis.

Der dritte Moment ereignet sich vor ei­nem Spiegel. Rita, die Traummaske von Dianes Liebesobjekt Camilla, fürchtet sich vor dem Ausgehen, deshalb gibt ihr Betty-Diane eine blonde Perücke. Sie hat die Farbe von Bettys Haar. Die beiden Frauen stehen nebeneinander und betrachten ihre Spiegelbilder. Die amerikanische Filmkritik hat die Szene als Hommage an Ingmar Bergmans Filmklassiker „Persona“ ge­le­sen, in dem die Gesichter von Liv Ullmann und Bibi Andersson im Spiegel miteinander verschmelzen. Aber bei Lynch bedeutet das Bild das genaue Gegenteil, denn es betont die Unterschiede: die fein geschnittenen Gesichtszüge von Naomi Watts, die gröberen von Laura Herring; die blaue Bluse der einen, die rote der anderen. Erst ganz am Ende des Films kehrt die Einstellung als Vision der sterbenden Diane wieder, und jetzt werden die beiden Köpfe tatsächlich eins. Aber vorher hat das „Silencio“ seine Pforten ins Geisterreich ge­öff­net, der dreieckige Schlüssel hat das blaue Kästchen aufgeschlossen, die eifersüchtige Diane hat einen Killer auf Camilla angesetzt, ihr Apartment hat sich als Todesfalle entpuppt, in der die Zombieminiaturen von Irene und ihrem Ehemann unter der Tür hindurchschlüpften, und der Mann mit dem Cowboyhut hat den entscheidenden Satz des Films gesagt: „Zeit zum Aufwachen.“ Der Weckruf des Kinos.

Ein Lächeln, ein Korridor, eine Perücke. Die Handschrift eines großen Regisseurs ist in jedem Augenblick seiner Filme erkennbar. Sie taucht die Dinge in ein Licht, in dem wir sie nicht mehr vergessen. David Lynch war ein sehr großer Regisseur.

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