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Zweite Bundesliga: St. Paulis Lernkurve zeigt steilen Aufwärtstrend – Sport | ABC-Z

Noah Weißhaupt stand in der Interviewzone des Hamburger Millerntorstadions und wirkte erst mal ziemlich irritiert. „Yes! Yes! Yes!“, schallte es von hinten, dann wurde dem Angreifer des FC St. Pauli hinterrücks auf die Schulter geklopft. Weißhaupt drehte sich über die rechte Schulter, doch der Klopfer, der Co-Trainer Peter Nemeth, war schon ein paar Meter weiter gestapft und wäre nur durch einen linken Schulterblick zu sehen gewesen. Dazu muss man wissen, dass Nemeth eine echte Kiezgröße ist, bekannt für sein lautes Organ und berüchtigt dafür, dass man sich mit ihm besser nicht anlegen sollte. Weißhaupt ist dagegen eher der schüchterne Typ von nebenan. Der 23-Jährige kicherte verlegen und gelangte in diesem Moment offenbar zu einer zutiefst wahren Erkenntnis: St. Pauli, das ist schon echt kein ganz handelsüblicher Fußballklub. Und trotzdem ist hier vom Bad Boy bis zum Musterschüler erst mal jeder willkommen.

Weißhaupt ist beim Kiezklub vorerst nur ein Mann auf Zeit, er kam im Januar leihweise vom SC Freiburg, wo sie ihn im Sommer dann als einen beinahe gestandenen Bundesligaprofi zurückerwarten. Bis dahin soll der frühere deutsche Juniorennationalspieler sein unbestreitbares Offensivtalent um Durchsetzungsvermögen und Charakterfestigkeit anreichern. Tägliche Begegnungen mit dem berüchtigten Co-Trainer Nemeth können da nur helfen. Und sie zeigen wohl schon erste Wirkung: „Das war eine super Leistung“, sagte Weißhaupt über den 3:0-Sieg gegen Union Berlin. „Von mir, aber auch von der ganzen Mannschaft.“ Ja, richtig gelesen, der eigentlich zurückhaltende Weißhaupt hatte tatsächlich einfach mal das diplomatische Protokoll für Fußballprofis umdribbelt – und auf die Frage, wie er dieses Heimspiel generell einordne, nicht nur seine Mitspieler und die Strategie des Teams gelobt, sondern zuallererst sich selbst.

Dabei handelte es sich allerdings um keinen Anflug von Großspurigkeit, sondern um die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Weißhaupt versprühte Ideen, behauptete sich, traf den Pfosten und setzte seine Teamkollegen in Szene. Er spielte, kurzum, mit derselben Selbstverständlichkeit wie der Rest der paulianischen Elf: Je mehr Wochen vergehen, desto erstligatauglicher wirken die Kiezkicker – von vorne bis hinten und neuerdings sogar mit Ball und nicht mehr nur gegen ihn. Da wären zum Beispiel Weißhaupts Angreiferkollegen Johannes Eggestein und Morgan Guilavogui, denen es immer besser gelingt, ihre Stärken auszuschöpfen und ihre Schwachstellen zu ignorieren.

Aus dem Mittelstürmer Eggestein wird in diesem Fußballerleben kein gefürchteter Torjäger mehr, doch gegen Union trat er mal wieder mit guten Entscheidungen, öffnenden Pässen und schlauen Laufwegen in Erscheinung. Der dynamische Sommerzugang Guilavogui hat seinen zu Saisonbeginn fahrigen Torabschluss geschärft und wuchtete einen Schuss unter die Querlatte (31. Minute) und einen weiteren flach ins Berliner Tor (51.). Den 3:0-Endstand erzielte der eingewechselte Danel Sinani in der Nachspielzeit.

St. Pauli stellt hinter den Bayern die zweitbeste Defensive der Liga – eine aufsehenerregende Bilanz für einen Aufsteiger

Die Liste ließe sich noch um einige Spiegelstriche ergänzen: Kapitän Jackson Irvine hat das Tempo im Oberhaus offenbar endgültig adaptiert; Philipp Treu erklärt die linke Außenbahn in erstaunlicher Regelmäßigkeit zu seinem Hoheitsgebiet; und dem im Januar ebenfalls ausgeliehenen James Sands gelang es nahezu mühelos, das Team eine Halbzeit lang aus dem Mittelfeldzentrum zu stabilisieren und eine als zentraler Abwehrmann.

St. Paulis Coach Alexander Blessin konnte also valide Argumente anführen, warum er nach Schlusspfiff mal wieder „keinen hervorheben“ wollte aus seinem Team. Lieber verwendete er seine standesgemäßen Defensivtrainervokabeln, sprach von „Entlastungen“, „Nadelstichen“, „Fehlervermeidung“. Das ungewöhnliche Experiment, wie weit man es mit eigener Torarmut treiben kann, wenn zugleich die defensiven Sicherheitssysteme auf Anschlag laufen, ist in der Rückrunde wohl ein wenig aufgeweicht worden.

St. Pauli hat zwar zum siebten Mal zu null gespielt und stellt hinter dem FC Bayern weiterhin die zweitbeste Defensive der Liga, eine aufsehenerregende Bilanz für einen Aufsteiger. Das Spiel gegen Union lieferte aber auch Belege dafür, dass die Kicker in weiteren Bereichen eine gute „Lernkurve“ (Blessin) hingelegt haben, etwa bei sauberen Abläufen im Aufbauspiel, kurzen Pässen direkt vor oder hinter die letzte Kette – und dem inzwischen blitzsauberen Verständnis zwischen Eggestein, Weißhaupt und Guilavogui, die bei Angriffen pflichtbewusst ihre Muster abspulen und hinterher tapfer in die eigene Ordnung zurückkehren.

„Es tut gut, immer mehr Mannschaften dazuzuholen“, sagte Eggestein und meinte damit: Durch den Sieg gegen streckenweise desolate Unioner konnte St. Pauli einen weiteren Konkurrenten in den Abstiegskampf zerren, der Kiezklub rückte auf Platz 13, die Berliner rutschten auf Rang 14. Und so brachte das vergangene Wochenende eine für Nordlichter nicht ganz irrelevante Fußnote hervor: Weil auch der HSV beim 3:2 im Zweitligaspitzenspiel gegen Hertha BSC die Oberhand behielt, konnte die Fußballstadt Hamburg die Fußballstadt Berlin gleich doppelt besiegen.

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