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Zwei Weltreisende im Gespräch: War früher mehr Abenteuer? – Reise | ABC-Z

Joachim von zur Gathen, 75, ist Mathematiker und emeritierter Professor der Universität Bonn. Seit er 17 Jahre alt ist, reist er um die Welt – später auch gemeinsam mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern. Er nutzt weder Whatsapp noch Instagram oder Youtube. Nur an Booking.com komme man heute nicht mehr vorbei, sagt er.

SZ: Herr von zur Gathen, warum reisen Sie?

Joachim von zur Gathen: Als ich sechs oder sieben war, machten meine Eltern eine Reise mit meinem jüngeren Bruder. Nach Frankreich und Spanien. Ich musste bei meiner Tante bleiben. Da war ich sauer und dachte, ich werde nie mehr so weit kommen – bis nach Spanien! Seitdem wollte ich reisen. Mit elf oder zwölf las ich Karl May, was noch mehr Fernweh bei mir auslöste. Mit 17 ging’s dann endlich los: eineinhalb Monate Mittelamerika. Seither war ich wohl die Hälfte meines Erwachsenenlebens auf Reisen, zusammengenommen etwa 27 Jahre.

Und warum reisen Sie, Herr Obermair?

Marinus Obermair: Mit der Familie waren wir eher nur in Italien oder Dänemark, auch schön. Aber ich habe mir im Internet Videos angeschaut von der Antarktis, vom Dschungel, von den Wüsten. Diese Extreme wollte ich selbst sehen und erleben. Ich wollte etwas lernen über die Welt und das auch bei Social Media teilen. Zu Beginn meiner Reise habe ich mir vorgenommen, jeden Tag etwas zu posten.

Hatten Sie von Anfang an das Ziel, viele Follower zu gewinnen und dadurch mit dem Reisen Geld zu verdienen?

Obermair: Ja, voll. Nach der Abschlussprüfung meiner Kochausbildung wurden wir Prüflinge gefragt: Was macht ihr jetzt? Alle haben gesagt, sie arbeiten weiter im Betrieb oder wollen in die Sterneküche. Ich saß in der letzten Reihe ganz links und hab gesagt: Ich gehe auf Weltreise und werde berühmt auf Social Media.

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Sie sind unter dem Motto „Ohne Geld um die Welt“ losgezogen mit 3500 Followern.

Obermair: Ja, und vergangenen September bin ich mit etwa einer halben Million Followern zurückgekommen.

Haben Sie das erreicht, weil Sie zunehmend extreme Dinge wie Ultramarathons oder Weitschwimmen gemacht haben? Muss man als Weltreisender so etwas bieten, um noch wahrgenommen zu werden?

Obermair: Ja. Es reicht in diesem stark umkämpften Feld sicher nicht mehr, einfach ein Sandwich zu essen vor der Kamera. Man muss schon abliefern. Man muss etwas Krasses machen, um wahrgenommen zu werden. Davon abgesehen erlebt man die Natur auch intensiver. Ich bin mit dem Fahrrad durch Australien gefahren, von Perth nach Sydney, alles aus eigener Kraft. So konnte ich das Land ganz anders erleben, als wenn ich mit dem Auto oder Motorrad gefahren wäre.

Was haben Sie denn noch Krasses gemacht?

Obermair: Ich bin von Flintsbach nach Bali gereist, ohne Geld. Nur was ich auf Reisen verdient habe, konnte ich ausgeben. Meistens bin ich getrampt und habe im Zelt geschlafen. Später bin ich drei Kilometer von Java nach Bali geschwommen und 3000 Kilometer von Mexiko nach Kolumbien gelaufen. Ich habe bei einem Ureinwohnerstamm gelebt und war im sogenannten unbekanntesten Land der Welt, Tuvalu.

Tuvalu – kennen Sie das, Herr von zur Gathen?

Von zur Gathen: Ja, natürlich, ich war in allen Ländern.

Obermair: Echt, in allen 193 Ländern? Wow!

Von zur Gathen: Ja. In Tuvalu war ich in den Neunzigerjahren. Da war es noch nicht am Untergehen. Aber jetzt sieht es schlecht aus wegen des steigenden Meeresspiegels.

Joachim von zur Gathen war in allen Ländern der Welt, zusammengenommen 27 Jahre lang auf Reisen. (Foto: Robert Haas)

Wenn Sie, Herr Obermair, bei Social Media über entlegene Orte wie Tuvalu berichten, haben Sie dann Bedenken – Stichwort Overtourism? Wenn nur zehn Prozent Ihrer Follower Ihnen nachreisen, hat Tuvalu 50 000 Touristen mehr …

Obermair: Zehn Prozent werden nie nach Tuvalu reisen. Das ist viel zu aufwendig. Viele meiner Follower wussten nicht, dass Tuvalu existiert und untergeht, weil der Meeresspiegel ansteigt. Dank meiner Videos wissen sie das jetzt.

Von zur Gathen: Der Tourist zerstört das, was er sucht, indem er es findet. Dieser Satz von Hans Magnus Enzensberger ist sehr wahr, und den müssen wir uns als Reisende, die in die letzten Winkel der Erde fahren, auch gefallen lassen.

Marinus Obermair bei Menschen des melanesischen Archipels Vanuatu.
Marinus Obermair bei Menschen des melanesischen Archipels Vanuatu. (Foto: Marinus Obermair)

Herr von zur Gathen, Sie sind ebenfalls oft auf extreme Art gereist, allerdings nicht, um der Öffentlichkeit darüber zu berichten.

Von zur Gathen: Nein, ich bin nicht für andere, sondern immer nur für mich gereist, auch viel mit meiner Frau und den Kindern. Ich will nicht im Vordergrund stehen. Ich habe mit meinen Reisen auch nie etwas verdient, ganz im Gegenteil.

Hatten Sie nie das Bedürfnis, einer breiteren Öffentlichkeit von Ihren Reisen zu erzählen?

Von zur Gathen: Nein. Ich habe früher mal Diashows gemacht. Dafür hat sich aber nie jemand so richtig interessiert, abgesehen von meiner Familie.

Wie erklären Sie sich das?

Von zur Gathen: Abenteuerliches Reisen ist kaum zu verstehen, wenn man so etwas nie selbst erlebt hat. Ich war bei 50 Grad in der Sahara und im Februar im Norden von Kanada, da waren es minus 75 Grad. Darunter kann sich niemand was vorstellen, der es nicht selbst gespürt hat.

Für die Reisen von Herrn Obermair interessieren sich offensichtlich viele Menschen. Sind Sie da ein bisschen neidisch?

Von zur Gathen: Neid kenne ich überhaupt nicht im Leben. Ich freue mich, wenn sich jemand für meine Reisen interessiert, aber ich reise aus anderen Gründen.

Aus welchen denn?

Von zur Gathen: Was mich antreibt, ist die Neugier auf Menschen und Kultur. Am besten lernt man die Leute kennen, wenn man zu ihnen nach Hause eingeladen wird. In muslimischen Ländern passiert das oft, auch in Südostasien. Wenn du in Kasachstan nach dem Weg fragst, kannst du nicht mal die Antwort abwarten, schon bist du zum Tee eingeladen. Ich fotografiere dann die Menschen, die mich einladen, nicht mich selbst.

Frau mit Kind und goldenem Mitgift-Ohrring in Mali 1978.
Frau mit Kind und goldenem Mitgift-Ohrring in Mali 1978. (Foto: Foto: Joachim von zur Gathen)

Herr Obermair, geht es in Ihren Videos auch manchmal um die Menschen, denen Sie begegnet sind?

Obermair: Manchmal schon. Ich habe zum Beispiel mal in einem Video Menschen in Kambodscha gefragt, was sie am meisten schätzen an ihrem Land. Das ist aber eher die Ausnahme. Meistens geht es um meine sportlichen Herausforderungen, um meine Persönlichkeit, meine personal brand.

Also Sie als Marke sozusagen. Ist Ihre community mehr an Ihnen interessiert als an den Menschen, denen Sie begegnen?

Obermair: Vielleicht würde sie auch die Menschen interessieren. Aber ich will den Einheimischen nicht nur für die community die Kamera ins Gesicht halten. Das verfälscht den Moment. Ich will mit den Leuten auf Augenhöhe reden.

Hat Ihr Erfolg auf Social Media Ihr Reisen verändert?

Obermair: Ja, es hat sich professionalisiert. Bei meinem Ultramarathon von Mexiko nach Kolumbien war zum Beispiel zum ersten Mal ein Kameramann aus Deutschland dabei, mit dem Auto. Der hat mich gefilmt und Wasser für mich transportiert.

So etwas geht auch nur, wenn man das Geld dazu hat. Steigt man dann mit der Zeit vom Zelt aufs Luxushotel um und vom Bus auf den Mietwagen?

Obermair: Ich hätte mir das leisten können, aber ich liebe es zu campen und entscheide mich bewusst dazu. Bei meinem Ultramarathon habe ich aber immer im Hotel geschlafen. Da musste ich auch meine ganzen Sachen aufladen und musste mich für den Marathon am nächsten Tag regenerieren. Da war guter Schlaf wichtig.

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Wie viel Zeit pro Tag fließt in Ihre Social-Media-Arbeit, wenn Sie unterwegs sind?

Obermair: Die Kamera läuft im Kopf den ganzen Tag mit: Was könnte ein guter Shot sein? In Australien bin ich zum Beispiel um fünf Uhr morgens aufgestanden und habe dann schon gefilmt: Frühstück, Zelt abbauen, losfahren mit dem Fahrrad. Am Abend muss ich dann schneiden, da wurde ich mit der Zeit immer schneller. Und danach noch das ganze Organisatorische zur Reise.

Herr von zur Gathen, können Sie sich vorstellen, so zu reisen?

Von zur Gathen: Nein, ich bin so froh, dass ich diesen Stress nie hatte! Ich habe auf meinen Reisen auch immer gearbeitet für meinen Brotberuf als Mathematiker und Forscher. Aber das habe ich immer abends gemacht. Ich konnte mir bei meinen Arbeitgebern immer viel Freiheit zum Reisen aushandeln. Untertags hatte ich den Kopf ganz frei fürs Unterwegssein.

Herr Obermair, glauben Sie, dass man sich mehr auf Dinge einlassen kann, wenn im Kopf nicht immer eine Kamera mitläuft?

Obermair: Am Anfang war das schon schwierig. Da habe ich viel zu viel gefilmt. Jetzt weiß ich genau, was interessant ist. Wenn zum Beispiel im Outback oder auf Bali viel Müll rumliegt, interessiert das die Leute. Dann drehe ich eine halbe Stunde zu dem Thema, und dann ist es auch vorbei für den Tag.

Marinus Obermair bei der Arbeit.
Marinus Obermair bei der Arbeit. (Foto: Marinus Obermair, instagram.com/movelikeg)

Sie berichten von Müll im Outback? Zeigen Influencer wie Sie nicht immer nur die schönen Seiten der Orte – am liebsten sich selbst, allein an einem leeren Strand?

Obermair: Ich denke nicht, dass das auf Dauer noch funktioniert. KI kann das noch viel bessere Bild kreieren, ein Video noch schöner und ästhetischer machen. Die Leute wollen mehr Authentizität, mit der sie sich identifizieren können.

Sie haben bewusst eine Kochausbildung gemacht, um auf Ihrer Reise über das Kochen mit Menschen in Kontakt zu kommen.

Obermair: Ja. Jeder liebt gutes Essen, man isst zusammen. In anderen Ländern ist das noch viel stärker so als in Deutschland. Wenn ich zu Gast war, wollten die Leute oft, dass ich etwas Deutsches koche. In Teheran gab’s dann zum Beispiel Knödel mit Geschnetzeltem.

Was hilft Ihnen, mit den Menschen an den besuchten Orten in Kontakt zu kommen, Herr von zur Gathen?

Von zur Gathen: Die Sprache. Darüber kommt man den Leuten näher. Ich kann Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Schwyzerdütsch fließend. Russisch, Arabisch, Portugiesisch und Italienisch spreche ich ein bisschen. Und ich kann auch ein paar völlig nutzlose Sprachen: etwa ägyptische Hieroglyphen lesen. Und Latein natürlich. Das habe ich sogar einmal beim Reisen benutzt. In Polen, Anfang der 80er-Jahre. Ich wollte zur Schwarzen Madonna von Tschenstochau. Da habe ich einen polnischen Priester nach dem Weg gefragt: Ubi est via ad Madonnam Nigram?

Gibt es überhaupt noch richtige Abenteuer in Zeiten von Internet und Smartphone?

Von zur Gathen: Jeder hat seine eigene Idee von Abenteuer. Für mich bedeutet Abenteuer, auf sich allein gestellt zu sein. In einer schwierigen Situation, die vielleicht sogar lebensgefährlich ist. Und man hat nur sein Können und Wissen, um sich selbst am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Das ist heute unmöglich, weil man immer ein Handy dabeihat oder ein Satellitentelefon.

Stimmen Sie dem zu, Herr Obermair?

Obermair: Es ist sicherlich schwieriger geworden, Abenteuer zu erleben. Aber es ist möglich: Ich bin zu Fuß durch den Darién Gap gelaufen, also durch den Dschungel an der Grenze von Panama nach Kolumbien. Ohne Handyempfang und ohne Satellitentelefon.

Das Gebiet ist gefährlich: wilde Tiere, reißende Flüsse, kriminelle Banden.

Obermair: Ich habe mit Leuten gesprochen, die vor mir da durchgegangen sind. Es war ein kalkuliertes Risiko. Und ich hatte einen einheimischen Führer dabei aus einem Dorf dort. Der hat mir geholfen und mich beschützt.

Joachim von zur Gathen ist sein ganzen Leben lang gereist, hier  mit dem Finger am Mount Everest in Tibet.
Joachim von zur Gathen ist sein ganzen Leben lang gereist, hier  mit dem Finger am Mount Everest in Tibet. (Foto: Joachim von zur Gathen)

Sind Sie auch solche Risiken eingegangen, Herr von zur Gathen?

Von zur Gathen: Oh ja. Ich war mehrmals in echter Lebensgefahr. Zum Beispiel, als ich das erste Mal in Saudi-Arabien war, in den Siebzigerjahren. Ich wollte zu den nabatäischen Felsengräbern von Hegra beim heutigen Al-Ula. Es war damals streng verboten für Fremde, dorthin zu reisen. Ich ließ mich aber nicht abhalten. Nachdem sehr viele Einheimische abgelehnt hatten, mich dort hinzubringen, fand ich zwei junge Männer, die mich für die damals riesige Summe von 100 Dollar mitgenommen haben. Leider hat mich dort die Polizei erwischt und ins nächste Gefängnis geworfen. In dem Moment wusste ich nicht, was aus mir wird. Keiner wusste, wo ich war. Ich hätte für immer verschwinden können.

In Saudi-Arabien konnte man dafür aber schon auch mal zum Tod verurteilt werden, oder?

Von zur Gathen: Absolut. Ich habe persönlich gesehen und fotografiert, wie Leuten die Hand abgehackt wurde. Ich wusste nicht, ob ich das überlebe oder als Terrorist hingerichtet werde. Wenn man ganz unten ist und es dann wieder bergauf geht, kann einem auch als Abenteurer so etwas passieren: Nach ein paar Stunden im Gefängnis wurde ich in ein großes Zelt gerufen, zur Dorfversammlung. Dieser hielt ich dann eine Rede auf blumigem Arabisch über die saudi-deutsche Freundschaft und die großzügige deutsche Polizei. Am Ende lud mich der Polizeichef persönlich zu sich nach Hause ein.

Könnten Sie sich vorstellen, einen Instagram-Kanal zu eröffnen?

Von zur Gathen: Nein. Ich sehe die unsozialen Medien als die Haupttreiber der Zerstörung unserer politischen Kultur. Deswegen möchte ich Zuckerberg und Genossen in keiner Weise unterstützen. Ein junger Mensch kann sich das heute überhaupt nicht leisten, das verstehe ich. Aber ich will frei sein. Ein Influencer ist nie frei.

Herr Obermair, und Sie wollen nun ein Buch schreiben, warum?

Obermair: Für mich selbst. Um noch mal alles Revue passieren zu lassen. Ich habe so viel erlebt, dass man das gar nicht alles verarbeiten kann in der kurzen Zeit. Das fertige Produkt dann in der Hand zu halten, das stelle ich mir schön vor. Aber es ist sicher viel Arbeit.

Herr von zur Gathen, haben Sie einen Rat an die junge Generation für zukünftige Reisen?

Von zur Gathen: Ich habe einen Tipp, der ist aber völlig unmöglich zu befolgen: Nimm kein Handy mit. Das schaffen die meisten ja nicht mal auf dem Weg zum Klo.

Herr Obermair, was wäre Ihr Tipp an Herrn von zur Gathen?

Obermair: Ich glaube, er macht für sich schon vieles richtig. Jeder muss seinen eigenen Reisestil finden. Er hat ihn gefunden, da habe ich noch einen langen Weg vor mir.

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