Geopolitik

Zurückweisungen: Miersch, Pro Asyl und Kirchen kritisieren Zurückweisungen trotz Urteil | ABC-Z

SPD-Fraktionschef Matthias
Miersch hält ein generelles Zurückweisen aller Migranten und
Asylbewerber an der Grenze nicht mehr für möglich. “Wir haben
eine Gerichtsentscheidung, die möglicherweise auch absolute
Konsequenzen hat”, sagte er. Seiner Einschätzung nach ergeben
sich “durchaus Konsequenzen, Einschränkungen im Handeln”, sagte er. Es müsse nun zunächst geklärt werden, in welchem Land ein Bewerber
sein Asylverfahren durchlaufen müsse. “Deshalb kann es kein
pauschales Zurückweisen geben.” Zwar würden Zurückweisungen von Asylsuchenden dadurch nicht per se
ausgeschlossen – es würden aber Rahmenbedingungen aufgezeigt.

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin sei grundsätzlich, aber
nicht letztinstanzlich, sagte Miersch. Das liegt an einer Sonderregelung im Asylgesetz: Ein Eilbeschluss zum
Thema Asyl kann nicht angefochten werden, eine Beschwerde ist nicht
zugelassen, damit die Sachverhalte schnell geklärt werden können. “Dennoch muss man diese
Entscheidung meines Erachtens sehr, sehr ernst nehmen”, sagte Miersch. Eine Prüfung müsse im Zusammenspiel von Bundesinnen- und -justizministerium sowie den Fraktionen geschehen.

Das Gericht hatte am Montag
in einer Eilentscheidung festgestellt, die Zurückweisung dreier Somalier
bei einer Grenzkontrolle am Bahnhof Frankfurt an der Oder sei rechtswidrig
.
Ohne eine Klärung, welcher EU-Staat für einen Asylantrag der Betroffenen
zuständig sei, dürften sie auf deutschem Boden nicht abgewiesen werden.

Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts binden zunächst nur die
Beteiligten, doch das Gericht teilte in seinem Urteil mit: Seine Ausführungen
könnten als grundsätzlich interpretiert werden. Es
habe in der Sache eine sogenannte Vollprüfung vorgenommen und mit einer aus drei
Berufsrichtern besetzten Kammer entschieden. Weitere Entscheidungen der gleichen Art gibt es bisher nicht, Nichtregierungsorganisationen erwarten aber ähnliche Klagen.

Justizministerin fordert Achtung des Rechts

Auch die Bundesjustizministerin
Stefanie Hubig (SPD) mahnte die
Achtung von Gerichten an. “In einem Rechtsstaat wie
Deutschland muss sich selbstverständlich auch die Regierung an
Gerichtsentscheidungen halten”, sagte sie. “Deshalb ist klar: Die Eilentscheidungen des Berliner
Verwaltungsgerichts müssen befolgt werden.” Das Verwaltungsgericht Berlin habe aber nicht abschließend
geklärt, ob Zurückweisungen von Asylsuchenden an den Grenzen mit
europäischem Recht vereinbar sind.

Es zeichne sich ab, dass es nicht einfach
werde, “die Justiz davon zu überzeugen, dass diese
Zurückweisungen rechtmäßig sind”. Das letzte Wort in dieser
Frage habe ohnehin der Europäische Gerichtshof. “Alle Maßnahmen
zur Begrenzung der irregulären Migration müssen im Einklang
stehen mit europäischem Recht und Verfassungsrecht.” Zugleich
betonte die Ministerin, es sei völlig inakzeptabel, “unsere
unabhängige Justiz zu diffamieren und zu attackieren, wie das
etwa Politiker aus dem rechtsextremen Spektrum tun”.

Man werde darüber jetzt in der Bundesregierung reden, “aber keine Streitigkeiten offen austragen”, sagte Hubig dem Podcast Table Today. Letztlich sage diese Entscheidung nur, dass die drei Antragssteller das
Dublin-III-Verfahren durchlaufen müssten. “Und das hat der Innenminister
zugesagt.”

Union will an Zurückweisungen festhalten

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hatten angekündigt, an den Zurückweisungen festhalten zu wollen. Man halte an der eigenen Rechtsauffassung fest, sagte Dobrindt.
Je nach Ausführung dürften diese dann jedoch rechtswidrig sein. Er habe
ein Interesse daran, dass es nach der Eilentscheidung ein
Hauptsacheverfahren gibt, sagte er.

Die Bundesregierung habe die volle
Unterstützung der Unionsfraktion, wenn sie an ihrer juristischen
Auffassung festhalte, sagte auch Unionsfraktionschef Jens Spahn (CDU). Deutschland sei “mit illegaler Migration massiv überfordert”. Es sei nötig, alles Mögliche dagegen zu
tun, sonst erodiere das Vertrauen in die
politische Mitte weiter. Wenn es nicht möglich sei, Menschen
zurückzuweisen, die aus Somalia über Belarus und dann Litauen und
Polen illegal nach Deutschland einreisten, erhalte faktisch jeder Mensch
weltweit Zutrittsrecht nach Deutschland. Dies habe in der Bevölkerung
keine Akzeptanz und zerstöre das Vertrauen in Demokratie. 

Pro Asyl wirft Dobrindt Rechtsbruch vor

“Das ist offener Rechtsbruch”, sagte unter anderem Pro-Asyl-Geschäftsführer Karl Kopp. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl hatte die
Klagen unterstützt. Ob es ein Hauptsacheverfahren geben kann, hängt auch von der Organisation ab, denn ein solches Verfahren könnte auf Antrag der Klägerseite für erledigt erklärt
werden. Die Organisation teilte auf Anfrage mit, dass über den Fortgang noch
nicht entschieden sei. Die Betroffenen würden das nun mit den Anwälten
beraten und dann entscheiden, sagte Kopp und
betonte: “Herr Dobrindt entscheidet es jedenfalls nicht.” 

Kopp sagte, er finde es “zutiefst beunruhigend,
dass Dobrindt eine solche Rechtsauffassung vertritt”. Er warf dem
Innenminister “Tricks” vor, um Zeit zu gewinnen.

Auch Kirchen und Opposition fordern Recht ein

Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) kritisierte die Praxis von Zurückweisungen. Die jüngste
Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts bestätige die Haltung der
EKD, sagte der Beauftragte des Rates der EKD für Flüchtlingsfragen,
Bischof Christian Stäblein. “Dauerhafte Grenzkontrollen und pauschale Zurückweisungen von Schutzsuchenden an deutschen Grenzen sind mit EU-Recht unvereinbar.” Statt auf nationale Alleingänge und rechtlich fragwürdige
Scheinlösungen zu setzen, solle Deutschland gemeinsam mit seinen
europäischen Nachbarn menschenrechtliche Lösungen verfolgen und
geltendes Recht achten.

Nach mehreren anderen Oppositionspolitikern rief auch SPD-Politiker Lars Castellucci, Beauftragter der
Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe, Dobrindt zur Einhaltung des Rechts auf: “Wer sich auf Recht und Ordnung beruft, muss Recht und
Ordnung einhalten”, sagte er. Die Linken-Politikerin Clara Bünger
sagte: “Wer die Rechte von Geflüchteten missachtet, gefährdet die Rechte
aller.”

Ebenso sagte die Grünen-Fraktionsvorsitzende
Britta Haßelmann, Recht sei gebrochen worden, “und das kann auf
keinen Fall so fortgesetzt werden”. Die Grünenfraktion würde Dobrindt gerne während
der Sitzung des Innenausschusses persönlich zu den
rechtlichen Grundlagen und Auswirkungen der Kontrollen und Zurückweisungen
befragen. “Entscheidungen von Gerichten mit demonstrativer Ignoranz zu
übergehen, sollte hierzulande keine Schule machen”, sagte
Grünen-Innenpolitiker Lukas Benner.

Weitere Urteile könnten folgen

Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst rechnet seinerseits mit
weiteren Entscheidungen von Gerichten zugunsten zurückgewiesener
Asylsuchender. Die Argumente des Berliner Verwaltungsgerichts für die
Rechtswidrigkeit der Zurückweisungen
seien “so schlagend, dass sie voraussichtlich auch in den weiteren
Verfahren Bestand haben werden”, sagte der Direktor der
Hilfsorganisation in Deutschland, Stefan Keßler.

Die Dublin-Verfahren beinhalteten auch das
Recht, sich vor Gericht gegen die Entscheidung wehren zu können, welcher
EU-Mitgliedsstaat für das Asylverfahren zuständig sein solle, sagte Keßler. Zudem könne sich Dobrindt nicht darauf berufen, dass Deutschland überfordert sei. Selbst wenn
einige Kommunen mit der Unterbringung und Versorgung von Asylsuchenden
ein Problem hätten, sei ein bundesweiter Notstand nicht gegeben. 

“Der Bundesinnenminister nimmt sehenden Auges
und billigend in Kauf, dass seine Politik für rechtswidrig erklärt
wird”, sagte Keßler. Das sei eine äußerst riskante Strategie, um
Rechtspopulisten wie der AfD Stimmen abzujagen. “Wirksamer wäre eine
Politik, die auf Aufklärung der Menschen und auf die Wahrung der
Menschenrechte – auch gegenüber Flüchtlingen – setzt.”

Ende Mai hatte das Bundesinnenministerium von mehr als 1.600 Zurückweisungen durch die Bundespolizei an der deutschen Grenze gesprochen. Schon vor Beginn hatte es Diskussionen um deren Legalität gegeben – auch innerhalb der Bundespolizei.

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