Zum Tod des Historikers und Verlagslektors Pierre Nora | ABC-Z

Untypisch war dieser Mann in mehrfacher Hinsicht. Nicht die Erschließung neuer Quellen, nicht neue Deutungen oder Blickperspektiven haben dem Historiker Pierre Nora internationales Ansehen verschafft, sondern die Entdeckung eines zuvor unbekannten Forschungsgebiets und die Erfindung eines neuen Begriffs: Erinnerungsorte.
Als die in Europa etwas voreilig schon abgeschriebene Nationalgeschichte gegen Ende der Siebzigerjahre in den Blick der Forschung zurückkehrte, stellte sich die Frage, ob sie einfach wie ehemals weiter in Form von Ereignis-, Wirtschafts-, Geistes- oder Mentalitätsgeschichte betrieben werden sollte. Pierre Nora hatte eine andere Idee. „Orte“ im weitest gespannten Sinn des griechischen „Topos“, das heißt Dinge wie die Pariser Notre-Dame, Versailles, die Höhle von Lascaux, aber auch Pariser Statuen und Straßennamen, die Marseillaise, die blau-weiß-rote Flagge, die Gastronomie oder das französische Wörterbuch, erschloss er als Phänomene, an denen sich kollektive Erinnerung festgesetzt und nationale Geschichte partiell herauskristallisiert hat.
Ein neues Forschungsfeld
„Les lieux de mémoire“ (Erinnerungsorte Frankreichs) heißt das von Pierre Nora herausgegebene siebenbändige Monumentalwerk mit rund hundert Einträgen von ebenso vielen Spezialisten, das in den Jahren zwischen 1984 und 1992 erschien und in anderen Ländern, darunter auch in Deutschland, zu entsprechenden Pendants anregte.
Mit dieser Publikation traf Nora exakt in eine Zeitwende, die, von Frankreich ausgehend, die Gedächtnisforschung, Erbpflege und Denkmalkultur wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte. Nebst den baulichen und musealen Kulturschätzen errangen dadurch auch stillgelegte Fabriken, alte Bauernhöfe, Handwerksgerät oder Volksbräuche den Rang von schützenswerten Gütern, die, historisch noch nicht ganz erkaltet, Spuren althergebrachter Gemeinschaftsempfindung in sich tragen.
Impresario der Geisteswissenschaften
Anders als die großen Titel der französischen „Annales“-Tradition von Marc Bloch, Fernand Braudel, Jacques Le Goff, unter welche die „Lieux de mémoire“ sich stolz einreihen, sind diese nicht das Werk eines Autors, sondern eines grandiosen intellektuellen Impresarios. Zu seinem Lehrstuhl an der École des Hautes Études en Sciences Sociales war der 1931 in Paris geborene Arztsohn Nora erst im Alter von weit über vierzig Jahren gekommen. Beim Karriereeinstieg schwankte der zu breit Begabte, der bei der Aufnahmeprüfung zur literarischen Eliteanstalt École Normale Supérieure durchfiel, unschlüssig zwischen historischer Forschung und Editionstätigkeit. Die Sternstunde kam aber, als der Verlag Gallimard ihn 1965 mit dem Aufbau eines Sachbuchprogramms betreute.
Es waren die großen Jahre der Geisteswissenschaften, und Pierre Nora konnte mit seinen Reihen „Bibliothèque des Sciences humaines“ und „Bibliothèque des Histoires“ aus dem Vollen schöpfen. Michel Foucault brachte ihm schon im ersten Jahr sein Manuskript von „Die Ordnung der Dinge“. Raymond Aron, Georges Dumézil, François Furet, Georges Duby, Jacques Le Goff gehörten zu den weiteren Autoren. Aber auch Elias Canetti, Ernst Kantorowicz, Thomas Nipperdey vertrauten dem Sachwalter bei Gallimard ihre Werke zur Übersetzung an.
Die Tribüne suchte er nicht
Als Cheflektor, Geschichtsforscher, Hochschullehrer, Ideenbeweger, Kontaktfigur, Intellektueller und ab 2002 Mitglied der Académie française stand Pierre Nora fünf Jahrzehnte lang an einer Schaltstelle des Pariser Geisteslebens. Zusammen mit dem Philosophen Marcel Gauchet gründete er 1980 die Zeitschrift „Le Débat“, die bis zu ihrer Auflösung vor fünf Jahren wesentlich die Themen der intellektuellen Debatten mitbestimmte. Gleichzeitig war dieser Virtuose der intellektuellen Macht in seiner Erscheinung aber ziemlich das Gegenteil dessen, was man gemeinhin einen Pariser Intellektuellen nennt. Ihn drängte es nicht auf die Tribünen. Er verbreitete keine Ansichten von Gut und Schlecht. Statt selbst zu schreiben, ließ er lieber andere schreiben. Mitunter bezeichnete er sich als einen „Mann ohne Eigenschaften“, jemand ohne feste eigene Meinungen, der Argumente vergleicht und in Umlauf bringt.
So etwas wie ein in Bibliotheken nachzulesendes Lebenswerk im klassischen Sinn hinterlässt dieser leidenschaftliche Ideenspekulant nicht. Man muss es in einem halben Jahrhundert französischen Geisteslebens aufspüren. Bis in die letzten Monate zog es Pierre Nora, seinen schwachen Beinen zum Trotz, noch in sein kleines Büro des Verlagshauses in der Rue Gaston Gallimard, das er seit sechzig Jahren bewohnte. In seinem 94. Lebensjahr ist er in Paris nun gestorben.