Zugunglück in Garmisch-Partenkirchen: Zweifel an Anklage gegen Eisenbahner – Bayern | ABC-Z
Zwei Jahre und zwei Monate ist es nun schon her, dass ein Regionalzug in Garmisch-Partenkirchen auf dem Weg nach München entgleiste. Die Folgen waren verheerend: Fünf Fahrgäste starben, 16 Personen wurden schwer und 62 leicht verletzt. Ein Gerichtsverfahren, in dem über Schuld oder Unschuld entschieden wird, ist aber immer noch nicht in Sicht. Und jetzt könnte es sogar dazu kommen, dass eine öffentliche Verhandlung in weite Ferne rückt.
Staatliche Bahnexperten sind zu einem Befund gelangt, der dem wohl wichtigsten Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft München II widerspricht. Die Staatsanwaltschaft hat Ende vergangenen Jahres Anklage gegen drei Eisenbahner wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung erhoben. Gegen einen Fahrdienstleiter, gegen einen Verantwortlichen für die Anlagen der Bahn, und gegen den damaligen örtlichen Streckeninspekteur. Weil dieser Schäden an der späteren Unglücksstelle erkannt habe oder hätte erkennen müssen. Konkret geht es um schadhafte Betonschwellen, die nachgaben und so den schweren Doppelstockzug nicht mehr in der Spur hielten.
Hier kommt eine in Bonn ansässige Behörde ins Spiel, die Bundestelle für Eisenbahnunfalluntersuchung mit der Abkürzung BEU. Aufgabe der BEU ist es, nach den „Ursachen von gefährlichen Ereignissen im Eisenbahnbetrieb“ zu forschen. Zum Unglück in Garmisch-Partenkirchen hat die Untersuchungsbehörde vor zwei Monaten einen Zwischenbericht veröffentlicht, dessen Brisanz bislang öffentlich nicht wahrgenommen wurde. Die BEU schreibt, ein „vollständiges Erkennen der Schädigungen“ an den Betonschwellen sei in deren eingebautem Zustand durch eine Inspektion per Augenschein nicht möglich gewesen.
Der örtliche Streckeninspekteur, der angeklagt ist, konnte sich aber nur auf seine Augen verlassen. Messgeräte, mit denen sich Schäden an Betonschwellen erkennen ließen, gibt es nach Angaben des Staatsunternehmens Deutschen Bahn bislang nicht. Das deutsche Streckennetz gehört weitestgehend dem Staatsunternehmen Bahn, das für die Sicherheit der Trassen verantwortlich ist. Das gilt auch für die Strecke von Garmisch-Partenkirchen nach München.
Zu dem tragischen Zugunglück vom 3. Juni 2022 teilte die Bahn vergangene Woche auf SZ-Anfrage mit: „Nach den vorliegenden Erkenntnissen waren die maßgeblichen Schäden an den unfallursächlichen Schwellen in Burgrain erkennbar.“ Burgrain ist ein Ortsteil von Garmisch-Partenkirchen; dort war der Regionalzug entgleist. Was die Bahn da mitteilt, entspricht auch den Ermittlungsergebnissen der Staatsanwaltschaft München II. Nach Angaben von Kennern der Anklage geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass dem Streckeninspekteur die schadhaften Betonschwellen aufgefallen seien. Der Streckenkontrolleur habe aber nichts veranlasst, um Unfälle zu verhindern.
Das passt nun überhaupt nicht zu den Ergebnissen der Bonner Behörde, die Bahnunfälle untersucht, damit die richtigen Lehren daraus gezogen werden. Mehr Sicherheit, weniger Unglücke, so lautet das Ziel der Bonner Behörde, die zum Geschäftsbereich des Bundesverkehrsministeriums gehört. In ihrem Zwischenbericht zum entgleisten Doppelstockzug von Garmisch-Partenkirchen schreibt die Behörde: „Die inneren Schädigungen waren bei den untersuchten Spannbetonschwellen deutlich höher als von außen erkennbar.“
Es ging um Risse an und in den Betonschwellen. In dem Zwischenbericht der Behörde heißt es weiter, die Rissbildung habe „teilweise in dem durch Schotter, Schiene und Kleineisen bedeckten Bereich“ stattgefunden. Was in dem Zwischenbericht der Bonner Behörde nicht steht, was aber die logische Folge ist: Um mögliche Schäden zu erkennen, müssen die Streckeninspekteure notfalls den Schotter beiseiteräumen. So erklärt das auch die Deutsche Bahn. Bei der Prüfung von Betonschwellen durch die Streckeninspekteure „werden bestimmte Schwellen auch freigelegt und Risse werden unter die Schotterkante nachverfolgt“. Das entspreche dem Stand von Wissenschaft und Technik.
Aber geht das überhaupt, wenn ein Inspekteur Tausende oder gar Zehntausende Schwellen abläuft und anschaut? Die Münchner Staatsanwaltschaft ist jedenfalls überzeugt, dem Garmischer Streckeninspekteur Versagen nachweisen zu können. Und auch dem damaligen Verantwortlichen für die Anlagen der Bahn in der Region Garmisch-Partenkirchen; also im Werdenfelser Land. Die Anklage soll den Vorwurf enthalten, der Anlagenverantwortliche hätte aufgrund der Erkenntnisse des Streckeninspekteurs reagieren müssen. Er hätte die Strecke sperren oder eine sogenannte Langsam-Fahrstelle anordnen können, kurz La genannt.
Wäre der Regionalzug etwa nur mit 20 Stundenkilometern über die Stelle mit den schadhaften Betonschwellen gefahren statt mit Tempo 100, wie das der Fall war, dann wären die Doppelstockwagen möglicherweise nicht entgleist. Weil dann viel weniger Druck auf die Schienen und Schwellen entsteht. Oder der Zug wäre doch entgleist, aber die Folgen wären wegen einer geringen Geschwindigkeit weit weniger dramatisch gewesen.
Eine vorsorgliche Streckensperrung hätte gravierende Folgen gehabt
Der Anlagenverantwortliche hätte den Schienenabschnitt auch sperren können, sagen Kenner der Anklage. Die Folgen wären allerdings gravierend gewesen. Weil es sich im Werdenfelser Land fast durchweg um eine eingleisige Strecke handelt, auch an der Unglücksstelle, hätte es zwischen Garmisch-Partenkirchen und München keinen Zugverkehr mehr gegeben.
Hätte, wäre, würde: Das alles setzt voraus, dass die Vorwürfe gegen den Streckeninspekteur zutreffen. Was nach den Erkenntnissen der Bonner Spezialisten für Bahnunfälle aber zweifelhaft ist. Die Bonner Behörde ist laut Gesetz selbständig und unabhängig und agiert nach eigenen Angaben „strikt“ getrennt von Strafverfahren. Aber die Justiz kann bei ihrer Wahrheitssuche die Untersuchungsergebnisse aus Bonn natürlich nicht ausblenden. Die Münchner Justizpressestelle und die Staatsanwaltschaft äußerten sich auf Anfrage nicht zu dem Bericht der Bonner Behörde. Derzeit sei das Verfahren „nicht öffentlich“, erklärte ein Justizsprecher.
Vorstellbar ist jedenfalls, dass das Landgericht München II die Anklage der Staatsanwaltschaft zurückgibt. Mit der Maßgabe, dem Widerspruch nachzugehen und aufzuklären, was Sache ist. Bevor das Gericht entscheidet, ob es zu einem Prozess kommt oder nicht. Nachermittlungen wird das in der Justizsprache genannt. Solche Nachermittlungen kommen immer wieder mal vor.
Um den angeschuldigten Fahrdienstleiter ginge es dabei nicht. Die Anklage besagt, ein Lokführer habe dem Fahrdienstleiter am Vortag des Unglücks ein „Hopsen“ seines Zuges an der späteren Unfallstelle gemeldet. Der Fahrdienstleiter soll diesen Hinweis nicht wie vorgeschrieben weitergegeben haben. Für die beiden anderen Angeschuldigten, den Streckeninspekteur und den Anlagen-Verantwortlichen, sind die Bonner Untersuchungsergebnisse aber sehr bedeutsam. Es ist gut möglich, dass die Verteidiger dieser beiden Angeschuldigten den Bericht aus Bonn bei Gericht einbringen. Auch wenn das Zeit kostet.
Im Fall Garmisch ist bei der Justiz sowieso noch nichts Entscheidendes geschehen. Es gibt noch nicht einmal das von der Staatsanwaltschaft angeregte Gespräch mit Gericht und Verteidigern, das dazu dienen soll, einen möglichen Prozess vorzubereiten. Geht es in diesem Tempo weiter, dann ist ein Prozessbeginn in diesem Jahr nicht mehr wahrscheinlich. Und jetzt ist da auch noch dieser Widerspruch aufzuklären.