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Zeitungsverlage: Kinder, hier gibtʼs was umsonst – Medien | ABC-Z

Um die folgenden Zeilen verstehen zu können, muss kurz etwas Fachvokabular aus dem 20. Jahrhundert erklärt werden. Damals waren nämlich sogenannte Zeitungen recht verbreitet, zeichenblockgroße, heftdicke Konvolute aus recycelten Altpapierfasern, die angenehme Knistergeräusche machten, wenn man in ihnen herumblätterte. Das tat man, weil darin Artikel standen, Texte über dies und das. Die hat man dann gelesen.

Man folgte also mit den Augen Buchstaben und Wörtern, die vorher von Redakteurinnen und Redakteuren in verschiedenster Kombination aneinandergereiht wurden, ähnlich wie in diesen Büchern, die junge Frauen heute auf BookTok in die Kameras halten. Die Zeitungen wurden den sogenannten Abonnenten (das waren Menschen, die freiwillig und regelmäßig für diese Zeitungen Geld bezahlten) allmorgendlich in die Briefkästen geworfen, kleine Schlitze, aus denen die Leute damals auch regelmäßig Briefe und Postkarten fischten, aber das führt jetzt zu weit. Wir können hier nicht jede aussterbende Kulturpraxis erklären.

Okay. Schluss mit der anachronistischen Schmunzelei, her mit den Fakten und willkommen im Online-Zeitalter. Laut JIM-Studie ist der Anteil der befragten Jugendlichen zwischen 12 und 19, die in Deutschland Tageszeitungen oder Zeitschriften lesen, zwischen 2000 und 2024 um zwei Drittel gesunken, von 33 Prozent auf knapp zehn Prozent. In anderen Ländern sieht es kaum anders aus.

Als die norwegische Medienbehörde im vergangenen Jahr Kinder und Jugendliche zwischen neun und 18 Jahren befragte, sagten 42 Prozent, dass sie überhaupt nie in irgendwelche Online-Zeitungen schauen würden. Nur 14 Prozent gaben an, ihre Nachrichten häufig aus Online-Zeitungen zu beziehen – und nur sechs Prozent aus gedruckten Zeitungen. Wenn überhaupt, nutzten die Jugendlichen eigentlich nur soziale Medien als Nachrichtenquelle.

Der Verlag verschenkt sein gesamtes Online-Angebot – für alle Leser unter 20

So weit, so ähnlich. Während in Deutschland dann aber meist geklagt wird, Bildungsverfall, Zeitungssterben, Demokratiekrise, haben die Norweger immerhin mal einen konstruktiven Vorschlag gestartet, den man mit dem Slogan der Bremer Stadtmusikanten paraphrasieren könnte: „Etwas Besseres als tote Leser finden wir allemal.“ Und das kam so.

Die Amedia-Gruppe, der größte norwegische Zeitungsverbund, hat sich 2021 mal genauer über die Altersverteilung der eigenen Abonnenten gebeugt und gesehen, dass sie 622 000 Leserinnen und Leser hatten, die zwischen 40 und 80 Jahre alt waren, 98 000, die über 80 waren – und genauso viele bzw. wenige, die jünger als 40 waren.

Ihre Leser starben ihnen also im Grunde von zwei Seiten weg: Die Altabonnenten sanken irgendwann ins Grab, was nun mal der Gang der Dinge ist. Bedrohlicher war, dass von unten kaum neue nachwuchsen. (Im 20. Jahrhundert hätte sich nach dem Lesen dieses Absatzes ein Abonnent an seinen Schreibtisch gesetzt und einen Leserbrief verfasst, in dem er drauf hingewiesen hätte, dass mangelnder Nachwuchs nicht gleichbedeutend sei mit Wegsterben.)

Weshalb Amedia nun was ziemlich Radikales probiert: Der Verlag verschenkt für ein Jahr an alle Jugendlichen zwischen 15 und 20 Jahren sein gesamtes Online-Angebot. Dazu muss man wissen, dass unter dem Dach von Amedia 107 norwegische Lokalzeitungen versammelt sind, von Avisen Kristiansand ganz im Süden bis Lofot-Posten, weit nördlich des Polarkreises. Und die kann man nun alle auf einmal lesen, ohne dafür zahlen zu müssen. Einzige Voraussetzung: Man hat noch nicht seinen 21. Geburtstag gefeiert.

Amedia lancierte das Angebot Ende Juni, also zu Beginn des Wahlkampfs – die Norweger wählen am kommenden Montag ihr neues Parlament. Marte Ingul, Pressesprecherin bei Amedia und Mitinitiatorin der Initiative, schrieb damals, es gehe dem Verlag um „einen einfachen Zugang zu all unseren Zeitungen mit faktengeprüften und ansprechenden Inhalten, denen sie vertrauen können – jetzt, wo es am wichtigsten ist: im Wahlkampf und in einer turbulenten Zeit für die Demokratie in der Welt.“

Das könnte man als Werberhetorik abtun, denn es ist ja klar, dass es dem Verlag am Ende vor allem darum geht, möglichst neue Leser zu finden, die vielleicht nach einem Jahr Gewöhnungszeit bereit sind, für all die Angebote auch etwas Geld zu zahlen. Aber auch das Medienmagazin Medier24 nannte das Amedia-Angebot „die konkreteste Demokratie-Initiative, die wir seit Langem in Norwegen gesehen haben.“

Schon jeder zehnte junge Mensch in Norwegen ist als Leser registriert – Tendenz steigend

Zu Beginn der Aktion am 23. Juni waren 5900 Norwegerinnen und Norweger zwischen 15 und 20 Jahren bei Amedia registriert – es gibt davon aber 400 000, man erreichte also gerade mal 1,5 Prozent der Alterskohorte. Mittlerweile sind sie bei über 47 000 Usern „und es kommen täglich über 600 neue dazu“, so die Kommunikationsberaterin Helene Wille Lund bei einem SZ-Besuch in den Räumen von Amedia in der vergangenen Woche.

Lund sagte, man sei optimistisch an die Sache rangegangen, aber nun doch selbst überrascht, wie gut das Angebot ankomme. Für Lund ist die große Resonanz „ein Beweis dafür, dass junge Menschen glaubwürdigen, gut recherchierten, lokalen und nationalen Journalismus wollen.“ Sie betont, dass die Hälfte der jugendlichen Neuabonnenten männlich sei – „und das ist ja eine Bevölkerungsgruppe, die für Nachrichtenverlage eher schwieriger zu erreichen ist“.

Amedia und die Amedia-Stiftung, der der Verlag gehört, überlegen schon, ob sie „das Ganze auf Dauer stellen sollen“, wie Lund es ausdrückt, ob sie also einfach in Zukunft pauschal allen Norwegerinnen und Norwegern bis zu ihrem 21. Geburtstag dauerhaften Gratiszugang gewähren sollen. „Aber jetzt schauen wir erstmal, wie es sich weiterentwickelt.“

Damit nicht die Eltern oder irgendwelche anderen User den Gratis-Account mitbenutzen, muss man sich jedes Mal mit seiner Bank-ID anmelden, einer Art digitalem Personalausweis, den jeder Mensch besitzt, der länger in Norwegen lebt. Auch wenn man einen anderen Rechner nutzt, muss man wieder die Digital-ID nutzen.

Mit Pauschalangeboten hat der Verlag schon einmal sehr gute Erfahrungen gemacht: André Stoylen, Mitbegründer der Amedia-Stiftung, nannte den Verlag im SZ-Interview mal „Das Netflix der Lokalzeitungen“. Er spielte damit auf das „+Alt“-Angebot des Verlags an, das 2020 eingeführt wurde.

„Alt“ heißt auf norwegisch alles, und wer sich für „+Alt“ entscheidet, hat Zugriff auf 107 Zeitungen des Verlags – ungefähr die Hälfte aller norwegischen Lokalzeitungen. „Du hast mit +Alt das ganze Land im Abonnement“, so Stoylen. Weit mehr als die Hälfte der 810 000 Abonnenten (Norwegen hat gerade mal 5,5 Millionen Einwohner). entscheidet sich für dieses „+Alt“-Abonnement.

Jetzt also „+Alt“ für Jung. Und umsonst. Von den 43 000 neu dazugekommenen Abonnenten nutzen laut Helene Lund „ungefähr 6000 täglich unsere Angebote“. Auch hier: Tendenz steigend.

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