Zeitlose Werke in Kochel am See: Blick in die Hölle – Bad Tölz-Wolfratshausen | ABC-Z
Ein Besuch im Franz-Marc-Museum verspricht immer eine intensive Farberfahrung: Der Park, in dem sich jetzt die Blätter färben, der dunkelblaue See, den man vom zweiten Stock des Museumsgebäudes aus sehen kann und selbstverständlich die Gemälde der Künstlergruppe Blauer Reiter, die für ihre Interpretationen der Wirklichkeit die Pinsel kräftig in die Farbtiegel tunkte. Einen eindrücklichen, herben Kontrast zu den Farborgien der zwei Obergeschosse bietet nun die neue Ausstellung. Unter dem Titel „Zeitfragmente“ präsentiert Museumsdirektorin Jessica Keilholz-Busch Werke vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bis in die späten Zwanzigerjahre, Grafiken zumal, Bilder einer Welt, aus denen angesichts der Schrecken des Ersten Weltkriegs die Farbe gewichen ist – einer Welt, die uns beunruhigend nahe scheint.
Eine repräsentative Serie der Ausstellung ist Otto Dix’ „Der Krieg“, 1924 veröffentlicht. Dix meldet sich 1914, wie viele andere Männer seiner Generation, freiwillig zum Militärdienst. Eingesetzt wird er von 1915 an, erlebt Trommelfeuer und Stellungskämpfe an der Westfront, zu Kriegsende ist er in Posen stationiert. Gute fünf Jahre dauert es, bis Dix mit Dürer’scher Präzision die Hölle des Krieges und seine Nachwirkungen in Bilder fassen kann: apokalyptische, menschenleere Landschaften; ein die klassische Memento-mori-Symbolik aufrufender Totenschädel, aus dem Würmer quellen; verwesende Pferde, die eine spannungsreiche Assoziation zu den Tieren Franz Marcs erlauben.
Die Form der Radierung scheint auch nicht zufällig gewählt, spiegelt sie doch, mit den quasi gewaltsamen Prozessen des Kratzens und Ätzens, die Systematik des Auslöschens, die in den Bildern ausgedrückt ist. 50 Blätter in vier Mappen hat Dix gestaltet, von denen aktuell eine Auswahl zu sehen ist. Im Laufe des Ausstellungszeitraums (Oktober bis Februar) werden die Exponate gewechselt, sodass alle Bilder einmal da gewesen sein werden.
Ein Blick auf Dix’ Bilder genügt, um zu verstehen, was Jessica Keilholz-Busch meint, wenn sie vom warnenden Charakter dieser Kunst spricht. Und warum es sich gerade jetzt lohnt, sich einmal mehr mit den Werken dieser Künstler zu beschäftigen. Keilholz-Busch betont, dass es zwischen unserer Gegenwart und der Zeit der Weimarer Republik offensichtliche Unterschiede gebe. Doch die erste Republik wird oft als Vergleichsmittel zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen verwendet wegen der ebenso offensichtlichen Gemeinsamkeiten: eine instabile, vor dem Zerfall stehende Koalitionsregierung, das offene Aussprechen radikaler Positionen, die soziale Schere, der Antisemitismus. „Was mich besonders bewegt, ist das Gefühl der Unzufriedenheit und Unsicherheit. Das ist das prägende Zeitgefühl, kaum jemand kann sagen: Ich bin glücklich“, sagt Keilholz-Busch. Darin sieht sie eine Parallele zur Weimarer Republik.
Der mit Otto Dix befreundete George Grosz zeigt die gespaltene Welt vor allem als Ort, in der die wenigen, die bequem leben, nur deshalb bequem leben, weil sie das auf Kosten der anderen tun. Grosz’ „Die Räuber“ entlarvt in karikaturhaften Darstellungen zumal die Kontraste zwischen dem feisten Bourgeois und dem großen Rest des Lumpenproletariats. Eine der stärksten Radierungen ist indes dem Klerus gewidmet. Ein pfannkuchengesichtiger Pfarrer steht vor einem Kreuz, von dem schwarzes Blut tropft. Vor ihm Patronen, eine Rakete, Leichenteile, aus einem gesprengten Schädel quillt Hirn. Die Drastik der Darstellung wird durch das darunter stehende Zitat noch erhöht: „Da donnern sie Sanftmut und Duldung aus ihren Wolken, und bringen dem Gott der Liebe Menschenopfer.“ Wie alle bildbegleitenden Zitate ist auch dieses Schillers „Räubern“ entnommen. Grosz sieht seine Sozialkritik also durchaus nicht als auf seine Gegenwart beschränkt, er schlägt den Bogen zu einem der beiden Dichter, der generationenübergreifend als ein deutscher Nationaldichter wahrgenommen wurde.
Diese Zeitlosigkeit – bei ungefähr gleichzeitiger Entstehung – verbindet die in Kochel ausgestellten Werke, George Grosz’ und Otto Dix’ bitter-zynische Zyklen, Max Beckmanns Bilder mit dem Titel „Jahrmarkt“ (eine Feier der Außenseiter, der Clowns und Drahtseiltänzer in der wackligen Republik) und Käthe Kollwitz’ Serie, die mit dem Bauernkrieg von 1524/1525 auf ein historisches Sujet zurückgreift. Am stärksten aber zeigt sich diese Universalität in Wilhelm Lehmbrucks „Der Gestürzte“.
Die große Bronze-Figur entstand als Lehmbrucks Vorschlag für ein dem Krieg gewidmetes Kunstwerk in seiner Heimatstadt. Doch statt den gebrochenen, vorwärts kriechenden Menschen entschied sich diese für einen kraftstrotzenden Siegfried. Zu eindeutig Lehmbrucks Anti-Kriegs-Plastik, zu der Keilholz-Busch, die sechs Jahre lang im Duisburger Lehmbruck-Museum wirkte, eine besondere Beziehung hat: „Ich finde, das ist eine der Skulpturen mit der stärksten Aussagekraft überhaupt. Ich tue mich schwer, etwas Vergleichbares zu finden. Sie zeigt, was kriegerische Auseinandersetzungen hinterlassen – den zerstörten Menschen, der sich weiterschleppt. Das wird auch in 200 Jahren noch Kraft entfalten.“
Keilholz-Buschs erste eigene Ausstellung in Kochel seit ihrem Amtsantritt im April wirkt so geradezu programmatisch. Sie verzichtet auf attraktive Gemälde, sondern präsentiert künstlerisch Hochwertiges, das dabei herausfordert und den Besucherinnen und Besuchern kaum Ausweichmöglichkeiten um diese Frage gibt: Tue ich genug, um zu verhindern, dass das wiederkehrt?
Wie brennend und umfassend diese Frage gestellt werden kann, macht das Werk deutlich, mit dem die Ausstellung beginnt und endet. Aus einem alten Setzkasten sprießen hier dürre Mohnblumen mit dicken Kapseln. Anselm Kiefers „Mohn und Gedächtnis“ ist eine vielschichtige Installation, in deren Glutkern Paul Celans gleichnamiger Lyrikband ist. Das 1952 erschienene Buch ist eines der Schlüsselwerke der Nachkriegslyrik, die darin enthaltene „Todesfuge“ (Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends) ein Meilenstein der Holocaust-Literatur. „Kunst kann ein Zeichen setzen, kann Kommunikationsräume öffnen. Ich möchte dazu einladen, diese Ausstellung auch als Warnung zu verstehen“, sagt Jessica Keilholz-Busch. Mit Blick auf Kiefers Werk könnte man ergänzen: Die Ausstellung kann bewirken, das eingekapselte Gedächtnis zu öffnen und sich so bewegen zu lassen.
Zeitfragmente, Franz-Marc-Museum, Kochel, bis Sonntag, 9. Februar 2025. Dienstag bis Sonntag, 10 bis 18 Uhr (bis Oktober), 10 bis 17 Uhr (von November an). Weitere Informationen unter www.franz-marc-museum.de