Kultur

Zehn Stunden Theaterglück und Rauchen auf der Podium: “Dionysos Stadt” | ABC-Z

Das Schauspielhaus der Kammerspiele wurde in der letzten Zeit nicht gerade von Zuschauern überrannt. Vielmehr konnte man jenseits der Premieren Vorstellungen erleben, in denen einige Lücken im Parkett klafften – was nicht unbedingt mit der Qualität der Inszenierungen zu tun hat.

Ausgerechnet den größten Hype sollte im angebrochenen neuen Jahr eine Inszenierung aus alten Zeiten auslösen: “Dionysos Stadt”, der von Christopher Rüping inszenierte, zehnstündige Theatermarathon, der am 5. Oktober 2018 Premiere hatte und sich zu einem Erfolg entwickelte, inklusive Einladung zum Berliner Theatertreffen 2019. Die Inszenierung ist ein Relikt aus der Ära von Matthias Lilienthal, dem Vorgänger von Barbara Mundel, der, man erinnert sich, von Presse und CSU geschasst wurde. Oder sich zumindest von Presse und CSU geschasst fühlte.

In Memoriam Matthias Lilienthal

Gerade mit “Dionysos Stadt” stellte Lilienthal unter Beweis, dass sein Experimentiergeist neben einigen Bauchlandungen auch Glanzstücke ermöglichte, die über den Theateralltag hinausgingen. Im März 2018 hatte er bereits die Reißleine gezogen und angekündigt, dass er seinen Vertrag über die Spielzeit 2019/2020 hinaus nicht verlängern wolle. Grund war die ständige Kritik an seinem Programm, die Einflussnahme von außen und wohl auch seine gestiegene Unlust, sich mit einer wenig freundlich gesinnten Öffentlichkeit auseinanderzusetzen.

Matthias Lilienthal im Malsaal der Münchner Kammerspiele.
© picture alliance/dpa
Matthias Lilienthal im Malsaal der Münchner Kammerspiele.

von picture alliance/dpa

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Was von Lilienthals Intendanz geblieben ist, sind einige hübsche Erinnerungen: an dramatische, sogar öffentliche Auseinandersetzungen zwischen ihm und seinen Kontrahenten. An ein spannendes Ensemble, darunter Anna Drexler und Thomas Hauser, beide heute am Staatsschauspiel engagiert. Und, eben, “Dionysos Stadt”. Zwei letzte Vorstellungen setzten die Kammerspiele zum Jahresanfang auf den Spielplan. Beide waren im Nu ausverkauft. Es war ein Ansturm, von dem die Kammerspiele ansonsten, wenn man von Hits wie der Polt-Well-Brüder-Sause “A scheene Leich” absieht, (noch) eher träumen dürfen.

Ein großes Theatererlebnis

Was aber macht “Dionysos Stadt” so besonders? Sicherlich, allein die zehnstündige Dauer der Inszenierung, mitsamt wohl gesetzten Pausen für Toilettengänge und kulinarische Ausflüge, etwa hin zum vereinzelten Food-Truck im Seiten-Hof, ermöglicht ein Theatererlebnis, das mehr ist als eine bloße Stippvisite zur kulturellen Bildung, mehr als ein Anlass zum weiteren Wegkonsumieren, wie man es von anderen heimischen Unterhaltungsmöglichkeiten kennt.

Bei der (angeblich) letzten Vorstellung am Feiertags-Montag durfte man zudem von Anfang noch mal erleben, wie klug Christopher Rüping und sein Team diesen Theatermarathon nach antikem Vorbild dramaturgisch und zuschaueranimierend durchdacht haben. Allein schon die Einladung zur Partizipation: Selten ist und war sie so charmant wie bei “Dionysos Stadt”. In Jeans und T-Shirt erklärt Nils Kahnwald zu Beginn die Rahmenbedingungen des Abends, teasert die vier Teile der Inszenierung mit unverschämt halbironischer Selbstsicherheit (“Der vierte Teil des Abends ist das Schönste, was ich je im Theater gesehen habe!”) und lädt alle dazu ein, sich, wenn eine Ampel grün zeigt, auf die Bühne zu begeben, um auf einer blauen Sitzreihe am Rande eine zu rauchen.

"Dionysos Stadt" in den Kammerspielen.
“Dionysos Stadt” in den Kammerspielen.
© Julian Baumann
“Dionysos Stadt” in den Kammerspielen.

von Julian Baumann

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Die Gelegenheit zum Schauen und Schmauchen in unmittelbarer Spielernähe nutzen beachtlich viele aus; das Über-die-Bühne-Hasten zur Raucherbank, während das Ensemble eifrig weiter spielt, wird zum Running Gag. Im dritten Teil darf das Publikum – aber bitte nur 50! – auf Bänken eine Hochzeitsgesellschaft markieren. Auch hier kündet der Run vom Parkett ins Scheinwerflicht von der Lust an der Teilnahme. Die Bühne, sie gehört an diesem Abend allen.

Mit Stage Diving

Den Weg von der Allmacht göttlicher Herrscher hin zu einem demokratischen Miteinander vollzieht die gesamte Inszenierung. Zwar regiert im ersten Teil noch Zeus, in beiden Vorstellungen verkörpert von Alaaeldin Dyab, der Majd Feddah aus der ursprünglichen Besetzung glorreich ersetzt. Aber durch Prometheus, der den Göttern das Feuer stiehlt und unters Volk verteilt, bahnt sich ein Machtwechsel hin zum Menschen an. Das Stage-Diving, das Nils Kahnwald und Wiebke Mollenhauer in den Zuschauerraum wagen, ist nicht nur heiter, sondern erzählt auch von der Geburt des Stars in der Nachfolge der Götter. Die zwei werden bereitwillig auf Händen getragen.

Durch den Feuerraub des Prometheus machte der Mensch einen Techniksprung, der auch zur Geburt des Krieges führte. Im zweiten Teil referiert Jochen Noch detailliert die Kriegsschiffe mitsamt Anführer, die in den Trojanischen Krieg zogen, dazu wirbelt Matze Pröllochs am Schlagzeug. Beginnt dieser zweite Teil mit einem älteren Mann, der die Materialschlacht des Kriegs vor Ohren führt, so endet er mit drei Frauen, die von den Leiden und Opfern des Kriegs erzählen, sich durch ihre Berichte und ihren Umgang mit den Männern gleichzeitig ermächtigen.

Das schönste Stück Theater überhaupt

In ihrer Abfolge als auch in sich selbst sind die vier Teile des Abends dramaturgisch beachtlich ausgereift. Ist der erste Teil stark entschleunigt, weil Prometheus sich eben auch, hoch oben in einem Käfig, in einem gefühlt unendlich dehnenden Bestrafungs-Loop befindet, ist der zweite Teil über den Trojanischen Krieg stark rhythmisiert und in seiner (Sprach-)Gewalt auch anstrengend.

Der dritte Teil ist hingegen locker und leicht, erzählt das ständige Blutvergießen der “Orestie” als witzige Sitcom. Was dem Ensemble zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit gibt, sich in halb improvisierten Scharmützeln gegenseitig Energie zu geben, die sich wiederum ins Publikum überträgt.

Und ja, dann kommt der vierte Teil, laut Kahnwald das schönste Stück Theater überhaupt. Am Ende regiert König Fußball. Man schaut dem Kick-Spiel des Ensembles entspannt zu, ist dabei genauso erschöpft wie sie. Nils Kahnwald schnappt sich das Textbuch der Souffleuse, um Gedächtnislücken zu stopfen. Aber er hat ihn weitgehend noch drauf, den Essay von Jean-Philippe Toussaint über Zidanes Kopfstoß beim Finale der WM 2006 im Berliner Olympiastadion. Es ist ein Essay über die Möglichkeit des Ruhms und das Scheitern in letzter Sekunde, über die Melancholie und die Gewissheit des Todes, die sogar in jedem Torerfolg steckt und letztlich jeden ereilen wird.

Feelgood-Theater, wie schön

Eine tiefe Melancholie steckt auch in diesem Abend, ist doch das Theater ebenfalls ein ständiger Ort der Vergänglichkeit. Der unvergleichliche Peter Brombacher wurde einst durch Jochen Noch ersetzt, ist aber in den Videoanimationen noch präsent. Genauso wie ihn vermisst man die Regiehandschrift von Christopher Rüping an den Kammerspielen, seine Art des Theaters: ein Theater, in dem lockere Improvisation jederzeit in konzentrierte, große Schauspielmomente münden kann. Ein Theater, in dem das große Gefühl seinen Platz hat. Feelgood-Theater, wie schön.

Zudem freute man sich über das Wiedersehen mit ehemaligen Ensemblemitgliedern. Mit Maja Beckmann, die eine ebenso große Tragödin wie Komödiantin ist. Mit Benjamin Radjaipour, der heute eher in Filmen (“Futur Drei”) und Serien (“Schwarze Früchte”) begeistert. Mit Gro Swantje Kohlhof, die an den Kammerspielen zumindest in “Jeeps” noch als Gast zu sehen ist. Nils Kahnwald und Wiebke Mollenhauer kennt man in München eh nur aus Rüpings Inszenierungen. Gemeinsam mit ihnen allen schaut man sich am Ende noch mal einen Sonnenaufgang an. Vieles geht vorbei. Aber vielleicht geht die Sonne auf ewig auf?

Ja, müssen die Dinge denn enden? Da an keiner Stelle erwähnt wurde, dass dieser Abend die Dernière sein sollte und während der begeisterten Standing Ovations auf der Bühne keine Abschiedsträne floss – bei den Spielenden nicht und auch nicht beim anwesenden Rüping -, ahnt und hofft man, dass es mit “Dionysos Stadt” vielleicht ähnlich wie mit manchen Bands ist: Das Ende wird angekündigt, die letzte Tour findet statt. Aber vielleicht gibt es doch ein Wiedersehen…

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