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Zehn Lehren aus der Wahl: Friedrich Merz kann aufatmen – aber fügt sich die SPD? | ABC-Z

Um 01.33 Uhr meldet die Wahlleiterin 4,972 Prozent für das Bündnis Sahra Wagenknecht. Der Partei fehlen ein paar tausend Stimmen für den Sprung in den Bundestag. Die Union mit ihrem Kanzlerkandidaten Friedrich Merz kann aufatmen: Ein potenziell chaotisches Dreier-Bündnis mit Sozialdemokraten und Grünen ist nicht nötig. Für die SPD ist das allerdings nur eine halbgute Nachricht – sie muss regieren, obwohl sie dringend eine Pause bräuchte.

Union und Merz siegen und enttäuschen doch

Das Ergebnis der Union ist alles andere als berauschend. Nicht einmal 29 Prozent fährt sie ein. Angepeilt waren mindestens 30 Prozent, gerne mehr. Es dürften einige Steine von den CDU- und CSU-Herzen gepurzelt sein, als in der Nacht das vorläufige Endergebnis mitgeteilt wurde. Mit dem Ergebnis: Das BSW bleibt draußen, zieht nicht in den nächsten Bundestag ein. Damit gibt es eine Mehrheit für das Wunschbündnis Schwarz-Rot. Das wiederum verspricht die größte Stabilität unter allen realistischen Koalitionsoptionen.

Wenn Merz es schafft, das Bündnis geräuschlos zu führen und Einigungen in Wirtschaft, Migration und Verteidigung herbeizuführen, kann daraus etwas Gutes erwachsen. Dann wäre es gar nicht mehr so wichtig, ob er 29 oder 31 Prozent geholt hat. Idealerweise macht die neue Bundesregierung dann einen so guten Job, dass sie neues Vertrauen aufbaut. Den Nachweis, dass er das kann, muss Merz freilich erst noch erbringen. Er hatte noch nie ein Regierungsamt inne. Leicht wird es ohnehin nicht, zumal Linke und AfD eine Sperrminorität haben.

Die SPD steht vor der „Zeitenwende“

Knapp mehr als 16 Prozent: Die SPD hat ihr schlechtestes Wahlergebnis in 138 Jahren Parteigeschichte eingefahren. So gerupft wie die Sozialdemokraten ist noch keine Partei aus einer Legislaturperiode hervorgegangen, in der sie den Kanzler gestellt hat. Fast die Hälfte der Männer und Frauen in der SPD-Fraktion hat ihr Mandat verloren. Der Exodus der Abgeordneten aus dem Osten ist beispiellos. Mehrere Sozialdemokraten sprechen von einer „Zäsur“. Schlimmer geht nimmer. Doch: Die SPD bräuchte nach 22 Jahren auf der Regierungsbank, die nur einmal von Schwarz-Gelb unterbrochen waren, eigentlich dringend eine Pause.

Doch nun wird sie als Mehrheitsbeschafferin für die Union und Friedrich Merz benötigt, weil das Land eine Regierung braucht. Die SPD hat also hochkomplizierte Koalitionsverhandlungen vor der Brust und muss sich zugleich neu aufstellen. Noch in seiner ersten Reaktion auf das Ergebnis kündigte Parteichef Lars Klingbeil eine personelle und programmatische Neuaufstellung an. Die Gefahr ist groß, dass parteiinterne Abrechnungen erfolgen. Warnungen aus der SPD heraus, dass man mit Kanzlerkandidat Olaf Scholz sehenden Auges in den Untergang läuft, gab es schließlich genug.

Trump jubelt, die AfD hofft auf Chaos

US-Präsident Donald Trump zeigte sich begeistert: „Es sieht so aus, dass die konservative Partei in Deutschland die sehr große und mit Spannung erwartete Wahl gewonnen hat“, schreibt er in den für ihn charakteristischen Großbuchstaben auf seinem Netzwerk „Truth Social“. Dies sei „ein großer Tag für Deutschland und für die Vereinigten Staaten von Amerika unter der Führung eines Gentleman namens Donald J. Trump“. Mit der „konservativen Partei“ meint er nicht die Union, sondern die AfD. Das ist natürlich Unsinn – die AfD ist nicht konservativ, sondern rechtsradikal. Ob es ein großartiger Tag für Deutschland ist, darüber lässt sich streiten; Umfragen und das Wahlergebnis zeigen, dass die meisten Deutschen das nicht so sehen.

Ansonsten hat Trump recht. Für ihn ist es ein Erfolg. Jubeln kann auch die AfD. Sie ist so einflussreich wie nie. Da eine verfassungsändernde Mehrheit für eine Reform der Schuldenbremse angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag unwahrscheinlich ist, wird die nächste Bundesregierung vor ähnlichen Problemen stehen wie die Ampel. Weidels Hoffnung, dass auch die künftige Koalition vorzeitig zerbricht, ist daher nicht abwegig. Die AfD setzt auf politisches Chaos. Ihr würde es helfen.

Die FDP kämpft ab sofort ums Überleben

Die Freien Demokraten erleben ein Déjà-vu: Wie 2013 fliegen sie aus dem Bundestag, nachdem sie einer Regierung angehört haben. Damals war es Schwarz-Gelb unter Angela Merkel, jetzt die Ampel unter Olaf Scholz. Damit endet für die Partei eine Ära. Der langjährige Vorsitzende Christian Lindner hat nach zwölf Jahren an der Spitze seinen Rückzug angekündigt. Wer ihm nachfolgt, ist völlig offen.

Ebenso offen ist, ob die Partei noch einmal das Comeback schaffen kann. Dass sie die Zeit der außerparlamentarischen Opposition überlebte, hat sie Lindner zu verdanken. So jemand ist derzeit nicht in Sicht. Andererseits: Vielleicht verspricht eine Team-Lösung Erfolg. Klar ist, dass die FDP ab sofort ums nackte Überleben kämpft. Mit dem Ausscheiden aus dem Bundestag fällt jede Menge Geld weg, Büros, Mitarbeiter. Auch das Medieninteresse wird schnell auf Sparflamme schrumpfen. Da wieder herauszukommen, wird ein hartes Stück Arbeit.

Überraschungsgewinnerin ist die Linke

Anfang des Jahres dümpelten die Linken in Umfragen noch bei 3 Prozent. Mit knapp 9 Prozent der Stimmen feiern sie nach der Bundestagswahl den Überraschungserfolg des Abends. Damit ist ihnen nicht nur der Einzug in den Bundestag gewiss – sie können ihr Ergebnis gegenüber der vorigen Wahl auch deutlich verbessern. Die Rettungsmission der „Silberlocken“ Gregor Gysi, Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow – alle drei jenseits der Pensionsgrenze – war mehr als erfolgreich. Die drei betagten Herren wollten ihre Partei über drei Direktmandate in den Bundestag holen, was nun nicht mehr nötig ist.

Aber auch der Erfolg der Co-Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek trug zum Triumph bei. Reichinneks emotionale Rede im Bundestag, in der sie CDU-Chef Merz scharf für Abstimmungen mit der AfD kritisiert, wurde Millionen Male geklickt. Die Linke verzeichnete daraufhin nicht nur einen enormen Zulauf bei Jungwählern, sondern auch eine beispiellose Eintrittswelle. Bedanken kann sich die Partei deshalb bei Merz. Und bei einer ehemaligen Parteifreundin: Nach dem Abgang von Sahra Wagenknecht war der Dauerstreit mit ihr beendet, die Linke konnte sich auf Kernthemen wie Frieden und Soziales konzentrieren.

Die Grünen machen in Opposition

Mit Friedrich Merz Kontakt aufnehmen? „Nee, warum denn?“, sagte Robert Habeck am Wahlabend. Tatsächlich, die Union kann mit den Sozialdemokraten ein Zweierbündnis eingehen, für Schwarz-Grün reicht es deutlich nicht. Die Grünen wandern in die Opposition. Zwar sind sie im Vergleich mit ihren Ampelpartnern SPD und FDP noch weich gefallen, doch lag ihr Anspruch weit über dem Ergebnis, das sie eingefahren haben. Es war ein Fehler, die Union mit solchem Furor für das Abstimmen mit der AfD zu verurteilen, wenn man zugleich noch immer bereit sein will zur gemeinsamen Koalition.

Auch hat Robert Habecks Buddy-Wahlkampf in den sozialen Medien nicht verfangen, da hat die Linke Heidi Reichinnek abgeräumt. Die Zweifel an seiner Wirtschaftskompetenz hat Habeck im Wahlkampf nicht beseitigt. Vielleicht an ein paar Küchentischen der Republik, wenn er genug Zeit zum Erklären hatte. In der Öffentlichkeit fehlten mindestens ein paar klare Subjekt-Prädikat-Objekt-Sätze, um die Sympathisanten dazu zu bringen, bei den Grünen das Kreuz zu machen.

Das BSW kann nicht Gesamtdeutsch

Was für eine Zitterpartie. Lange blieb in der Nacht ungewiss, ob das BSW den Einzug in den Bundestag schafft. Dann die Niederlage: Die Wagenknecht-Partei scheitert knapp an der Fünf-Prozent-Hürde. Dabei verlief das letzte Jahr so vielversprechend für das BSW. Nachdem Wagenknecht und einige weitere Abgeordnete aus der Linken austraten und ihre eigene Partei gründeten, schaffte sie es aus dem Stand bei den Europawahlen auf 6,2 Prozent. Die große Sensation des Sommers lieferte das BSW aber bei den drei Landtagswahlen im Osten: In Sachsen holte es 11,8 Prozent der Stimmen, in Brandenburg 13,5 und Thüringen 15,8. In Potsdam und Erfurt ist das BSW an der Regierung beteiligt.

Nun zeigt sich jedoch: Der Erfolg in Ostdeutschland ist kein Garant für den Triumph bei einer bundesweiten Wahl. Für die Partei geht es jetzt ums Ganze: Wagenknecht hat ihre politische Karriere an das Wahlergebnis geknüpft. Die Bundestagswahl sei auch eine Entscheidung über Ihre politische Zukunft, sagte sie. Jemand, der nicht im Bundestag sitze, sei in der deutschen Politik kein relevanter Faktor. Dabei bleibt die Frage unbeantwortet, was mit ihren Parteifreunden in der brandenburgischen und thüringischen Regierung geschehen soll, falls sie als Parteivorsitzende hinschmeißt.

Schlechtes Ergebnis für Bundeswehr und Ukraine

AfD und Linke sind sehr unterschiedliche Parteien, aber in einem Punkt sind sie einer Meinung: Mehr Geld für die Verteidigung und für die Unterstützung der Ukraine lehnen sie ab. Das dürfte für die nächste Bundesregierung ein Problem werden. Denn zusammen haben AfD und Linke mehr als ein Drittel der Abgeordneten im 21. Bundestag.

Ein weiteres Sondervermögen für die Bundeswehr ist damit ebenso unwahrscheinlich wie eine Reform der Schuldenbremse mit dem Ziel, mehr Geld für die Rüstung zu haben oder für die Ukraine. Für entsprechende Beschlüsse wären mindestens 420 Stimmen im Bundestag nötig. Die haben Union, SPD und Grüne nicht. SPD und Grüne hatten in der vergangenen Legislaturperiode argumentiert, dass die Schuldenbremse besser noch vor der Wahl hätte reformiert werden sollen. Dazu war die Union nicht bereit.

Deutschland ist gespalten wie seit 1990 nicht mehr

Der Osten tickt anders. Das war immer schon so seit der Wiedervereinigung. Lange Zeit drückte sich das vor allem in deutlich höheren Wahlergebnissen für die PDS, später Die Linke, aus. Auch die rechtsextreme NPD hatte in einigen Ostwahlkreisen in den 1990er und frühen 2000er Jahren regelrechte Hochburgen. Aber so extrem wie bei dieser Wahl gingen die Wahlergebnisse zwischen Ost und West noch nie auseinander.

Nach Direktkandidaten ist fast der gesamte Osten blau. Im Osten ist die AfD mit 34 Prozent der Zweitstimmen stärkste Kraft. In Sachsen kommt die AfD sogar auf 45 Prozent, in Thüringen und Sachsen-Anhalt je auf rund 38 Prozent, in Brandenburg sind es 32 Prozent. Im Osten kommt die Union nur auf rund 18 Prozent, die SPD auf etwas mehr als 11 Prozent. All das weicht stark vom Westen ab: Dort kommt die Union auf 34 Prozent. Auch die Grünen haben erneut ihre Stimmen vor allem im Westen geholt. In Baden-Württemberg waren es knapp über 14 Prozent, im Sachsen gerade einmal 5.

Deutschland ist politisch wie nie

Das hat es im wiedervereinten Deutschland noch nicht gegeben: Auf mehr als 83 Prozent schätzt Infratest dimap am Abend die Wahlbeteiligung. Das entspricht rund 49 von 59 Millionen Wahlberechtigten. 2021 lag die Wahlbeteiligung noch bei damals schon guten 76,4 Prozent. Damit war die diesjährige Bundestagswahl auch nicht mehr weit weg vom Rekordwert des Jahres 1972, als 91,1 Prozent der Wahlberechtigten den Showdown zwischen SPD-Kanzler Willy Brandt und seinem Herausforderer von der Union, Rainer Barzel, entschieden.

Lange Zeit galt, dass eine hohe Wahlbeteiligung die politischen Ränder schwächt. Das ist nicht mehr so. Die AfD konnte laut Infratest dimap sogar fast 2 Millionen Menschen mobilisieren, die der letzten Bundestagswahl ferngeblieben waren. Die Linke hat immerhin 480.000 bisherige Nichtwähler für sich gewonnen, das BSW 410.000. Damit ist das Wahlergebnis so repräsentativ wie lange nicht. Das ist die vielleicht beste Nachricht dieses Wahlabends.

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