„Zahlen schreiben Geschichte“ bei Arte: Was war am 14. Oktober 1066 bei Hastings? | ABC-Z

Historische Jahreszahlen, die sich runden, werden in ihrer Bedeutung oft überschätzt. Einen anderen Zugang zu derlei Daten bietet die Arte-Serie „Zahlen schreiben Geschichte“. Sie interessiert sich nicht für Fünfziger-, Hunderter- oder Tausenderschritte. Die einzelnen Folgen über Ereignisse wie den Untergang Pompejis (79), „Die Geburt des Islam“ (622) oder „Die Pilgerreise des Mansa Musa“ (1324) blicken auf berühmte oder zu Unrecht unterschätzte historische Daten ohne direkten Anlass. Ihre herkömmliche Lesart wird meist mit einer Tendenz zur Entmythologisierung infrage gestellt: Was genau schlüpfte 753 aus dem Ei, warum beginnt unsere Zeitrechnung mit der Geburt und nicht mit dem Tod Christi, was wird am amerikanischen Unabhängigkeitstag tatsächlich gefeiert?
Moderiert werden die 25 Minuten langen Folgen – bisher liegen 45 Teile in drei Staffeln seit 2017 vor – von dem 59 Jahre alten Mittelalterhistoriker Patrick Boucheron, der am Collège de France in Paris lehrt. Die Anfangsszene ist immer die gleiche: Boucheron sitzt ungezwungen vor einem schwarzen Hintergrund, die Beine übereinandergeschlagen, und führt ins Thema ein. Er spricht einfühlsam, manchmal fast schmeichelnd, seine Gestik ist zurückhaltend, aber unübersehbar die eines französischen Intellektuellen. Sein freundlicher Gesichtsausdruck steht in schönstem Kontrast zu den vorgetragenen, zuweilen recht provokativen Thesen.
Der Teppich wird in ganzer Länge abgefahren
Nach der Einführungsminute folgt eine durch Kommentare aus dem Off und moderierende Zwischenpassagen flankierte multimediale Vertiefung. Eine wichtige Rolle spielen animierte Infografiken. Besonders gelungen in der dritten Staffel ist die Folge zur Schlacht bei Hastings vom 14. Oktober 1066. Das Besondere an diesem außergewöhnlichen, 959 Jahre zurückliegenden Ereignis sei, dass es auf einem außergewöhnlichen Werk verewigt wurde, dem Teppich von Bayeux. Dieser wird nun in ganzer Länge abgefahren und in Sequenzen zerlegt, wobei seine Hauptthemen wie in einer Comicerzählung dargeboten werden. Ein Experte analysiert die Ikonographie und erklärt stilistische Besonderheiten.
Eingebettet wird das Ereignis in seine zeitlichen Hintergründe, maßgebliche Quellen werden eingeblendet und genau betrachtet. Insgesamt stelle der Teppich eine Antwort auf die dynastische Krise dar, in die England nach dem Tod Eduards des Bekenners geriet. Die Machtansprüche von Harald II. und Wilhelm „dem Eroberer“ könnten unterschiedlich interpretiert werden, dem komme das Gewebe auf raffinierte Weise entgegen. Es sei ein auf Versöhnung zielendes Kommunikations- und Machtmittel mit einem Gewicht von nicht einmal zwanzig Kilogramm. An dieser Stelle hat der Zuschauer fast schon das Gefühl, den Teppich wie einen vertrauten Gegenstand in die Tasche stecken zu können.
Kaum eine Folge verzichtet auf überraschende Aktualitätsbezüge und davon abgeleitete Identitätsfragen. So habe das englische Königshaus für die Krönungszeremonie von Charles III. die Erlaubnis erbeten, ein vorhandenes Fragment des Teppichs ausleihen und in der Goldenen Staatskutsche mitführen zu dürfen (die Bitte wurde abgeschlagen). Fast noch staunenswerter ist die nach der Landung in der Normandie 1944 angebrachte Inschrift auf einem Denkmal des britischen Militärfriedhofs in Bayeux: „Wir, die von Wilhelm Besiegten, haben die Heimat des Siegers befreit.“
Es folgt ein Exkurs über die Existenz eines gemischten anglonormannischen Sprachraums nach 1066 zu beiden Seiten des Ärmelkanals. Das „Rolandslied“ gelte zwar als erstes französisches Literaturdenkmal, abgefasst sei es aber in anglonormannischer Mischsprache – woraus Patrick Boucheron folgert, die französische Identität müsse „flexibler, komplexer“ und insgesamt stärker „entnationalisiert“ werden. Boucherons Schlusssätze sind stets überraschend, auch wenn sie nicht immer auf ganzer Linie überzeugen. Geprägt sind sie durch fast poetische Formulierungen, immer geht es darum, verhärtete historische Sichtweisen durch Offenheit und globale Multiperspektivität zu befreien. Nie wirkt dieser Ansatz gewollt.
Die Folgen von „Zahlen schreiben Geschichte“ sind kleine Vorlesungen und inspirierende Nachhilfestunden. Nicht verpassen sollte man die Folgen zum Tod Alexanders des Großen und Ludwigs des Heiligen. Es ist nicht unmöglich, echtes Bildungsfernsehen mit Alltagsrelevanz und ohne peinliche Spielszenen zu präsentieren.
Zahlen schreiben Geschichte ist abrufbar in der Arte-Mediathek.