Woher Juri Knorrs neue Lockerheit kommt | ABC-Z
Die größte Fähigkeit von Tom Ripley in Patricia Highsmiths Roman „Der talentierte Mr. Ripley“ besteht – neben seiner Kaltblütigkeit – darin, andere zu täuschen. Der amoralische Held begeht Tat um Tat, um seine Mitmenschen und die Polizei in die Irre zu führen – was bis zum Ende der fünfteiligen Buchserie auch gelingt. Juri Knorr schmunzelt, als er von seiner Lektüre des ersten Ripley-Romans erzählt.
Er will nicht recht damit herausrücken, was ihm außer der Spannung so gut an der Geschichte gefällt. Vielleicht, dass er sich in einigen Charakterzügen Mr. Ripleys selbst wiedererkennt. Als Spielmacher lässt er sich schließlich auch nicht von seinen Gegenspielern in die Karten schauen – und bei Auskünften zu seinem eigenen Ich lässt er Gesprächspersonen gern in die Irre laufen.
Knorr, 24 Jahre alt, hat seine Scheu abgelegt, wenn er in Runden wie diesen, in den Tagen vor einem Handball-Großereignis, aus seinem Leben erzählen soll. Zwar spricht er immer noch leise, doch sucht er den Augenkontakt, streut Scherze ein, verweigert sich nicht. Ein höflicher Mann war er schon immer. Wenn er schöne Festtage wünscht oder nach dem Befinden fragt, wirkt das nicht aufgesetzt, sondern ernsthaft interessiert.
Spiel mit Spaßfaktor
Manchmal lächelt er in sich hinein, wenn der Fokus auf ihn gerichtet ist, rückt instinktiv einen Schritt zurück. Doch er hat einen Umgang damit gefunden, was einer nicht unbeträchtlichen Entwicklung gleichkommt: „Wenn ich im Januar in den Lehrgang gehe, denke ich immer, dass ich nie weiß, was kommt. Ich bin vor jedem Turnier angespannt“, sagt Knorr: „Es ist aber auch schon mein sechstes großes Turnier, und wir konnten im Sommer einen großen Erfolg sammeln. Das hilft mir, das Ganze nicht ernster zu nehmen, als ich es muss.“
Handball ist für ihn vor allem ein Spiel mit hohem Spaßfaktor. Eines aber, das sich leichter spielt, wenn man nicht ständig die großen Spiele verliert. Insofern war das olympische Silber nicht nur für den Deutschen Handballbund (DHB) ein epochales Ereignis, sondern auch für Knorr, der ein sehr gutes Turnier spielte und als Torschütze und Gestalter gleichermaßen glänzte.
Und das nur ein halbes Jahr nach seinem öffentlich kritisierten Auftritt im Halbfinale der Heim-EM gegen Dänemark: Knorr lud zu viel Last auf seine Schultern und brach darunter zusammen. Zusammen mit der unsachlichen Kritik der Altinternationalen Michael Kraus und Pascal Hens war das zu viel für ihn – sein Seelenstriptease in der Mixed-Zone wirkte ehrlich, aber auch schmerzhaft.
Renars Uscins tritt ins Rampenlicht
Knorr offenbarte später, wie ihn Erwartungsdruck und die öffentliche Rolle belasteten. Er zog sich zurück, arbeitet mit einem Mentaltrainer vor allem daran, den eigenen Erwartungen gerecht zu werden. Nicht äußeren, die waren nämlich schon immer riesengroß. Seit Knorr 16, 17 Jahre alt ist, gilt er als derjenige, der Handball-Deutschland in eine goldene Zukunft führen soll.
In den Tagen vor der Weltmeisterschaft erlebt man einen anderen Juri Knorr. „Er spielt sehr gut, wirkt befreiter, lockerer“, sagt Bundestrainer Alfred Gislason, „er ist sehr gut drauf.“ Ein Grund dafür ist Renars Uscins. Nach seinen Auftritten bei den Olympischen Spielen ist der Linkshänder aus Hannover der gefragte Mann – so, wie es Knorr vor den Turnieren 2023 und 2024 war. Gislason sagt: „Juri hatte ziemlich viele Probleme damit, dass jede Aussage von ihm auf die Goldwaage gelegt wurde.“ Mittlerweile wird jede Aktion von Uscins bewertet.
Von Sommer an wird sich Knorr der deutschen Öffentlichkeit weiter entziehen. Der Wechsel nach Aalborg steht schon seit Längerem fest. Dort ist zwar nicht mehr Maik Machulla sein Trainer, der den Transfer mit ermöglicht hatte. Aber Knorr wirkt ohnehin wie ein Mensch, der – abgesehen von seiner Freundin und seiner Familie – sein Wohlbefinden nicht an die Anwesenheit anderer knüpft.
Wurde der Wechsel nach Nordjütland als Flucht aus der vergleichsweise grellen Bundesliga gedeutet, will Knorr davon immer weniger wissen und kommt mit sportlichen Argumenten: „Aalborg stand zuletzt zweimal im Champions-League-Finale und hat namhafte Spieler geholt. Es war ein wesentlicher Faktor, dass ich mit Aalborg relativ sicher in der Champions League spiele, was in der Bundesliga nicht mal mehr Teams wie Kiel und Flensburg sicher schaffen.“ Dass der Weg zu seiner Familie in Bad Schwartau aus Dänemark viel näher ist als aus Heidelberg, macht den Umzug für ihn zusätzlich reizvoll.
„Zeit für einen großen Wurf“
Trotz einer Handverletzung und einer langwierigen Erkältung hat Knorr eine ordentliche Hinrunde für die Rhein-Neckar Löwen gespielt. Bei Gislason ist er als Regisseur gesetzt, weiß in Luca Witzke einen kompetenten Ersatz hinter sich. „Ich spiele hier mit ziemlich vielen fast gleichaltrigen Kumpels zusammen. Da fällt es leicht, eine soziale Bindung aufzubauen“, sagt Knorr zur Stimmung im DHB-Team, die von allen gepriesen wird. Inzwischen sind auch jüngere Spieler dabei, die Misserfolge im Nationaltrikot nicht kennen und für gute Laune sorgen. All das führt dazu, dass der Fokus weniger auf Knorr liegt.
Die letzte WM-Medaille? „Das war 2007. Ich war auf einem Kindergeburtstag und wir haben die zweite Halbzeit dort gesehen.“ Es wäre also an der Zeit für den nächsten großen Wurf, den Knorr – gewohnt vorsichtig – für nicht unmöglich, aber auch nicht sehr wahrscheinlich hält: „Wir sind besser geworden, aber die anderen auch. Es wird ein Hauen und Stechen geben.“
Beginnend mit dem Auftaktspiel am Mittwochabend gegen Polen (20.30 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Handball-WM und in der ARD) wollen Knorr und die Deutschen gut ins Turnier finden. Seinen Stapel Bücher hat der Spielmacher auch diesmal wieder dabei, nachdem er vor einem Jahr noch begeistert die Werke von Benedict Wells verschlungen hat. Den Verbleib bis zur Endrunde vorausgesetzt, könnte sich Knorr durch alle fünf Ripley-Bände schmökern.