Wirtschaftliche Herausforderungen im Vereinigten Monarchie: Wachstumsprobleme und Brexit-Folgen – Wirtschaft | ABC-Z

Es gibt in diesen windigen, unwirtlichen Tagen im Vereinigten Königreich zwei Herausforderungen, die beide mit einem großen G zu tun haben. Auf der einen Seite versuchen Britinnen und Briten, die sich keinen alkoholfreien Dry January, sondern lieber ein Guinness gönnen, beim ersten Schluck so viel abzutrinken, dass die anschließende Bierhöhe das G des Brauerei-Schriftzuges am Glas genau in der Mitte teilt. Split the G, heißt die Disziplin. Auf der anderen Seite will Finanzministerin Rachel Reeves ihr Lieblings-G, das G für Growth (also Wachstum), sicher nicht halbieren, sondern eher vervielfachen. Unterschiedliche Aufgaben sind das, und doch eint Bürger und Regierende das Scheitern daran.
Fünf Jahre nach dem Brexit und ein halbes Jahr nach dem Regierungswechsel muss man die Zwischenbilanz ziehen, dass es derzeit nicht gut um Großbritanniens Wirtschaft steht.
Zunächst die Vorgeschichte der Katerstimmung: Seit ihre Partei im Sommer einen überwältigenden Sieg bei den Wahlen feierte, ist Rachel Reeves, 45, Finanzministerin im Vereinigten Königreich und damit die erste Frau in dem Amt überhaupt. Labour ist nach 14 Jahren wieder an der Macht gekommen, und die Tories waren auch deswegen abgewählt worden, weil sie die Länder heruntergewirtschaftet und einen Schuldenberg in Höhe des Bruttoinlandsprodukts aufgetürmt hatten. Ende 2023 ist man gar in eine Rezession gerutscht – das ist das eine Erbe, das die Konservativen hinterließen.
Nun lag die große Hoffnung bei Premierminister Keir Starmer und seinem versprochenen „Wiederaufbau Großbritanniens“: Armut bekämpfen, Lebenshaltungskosten senken, Arbeitende stärken, Wohnungen bauen, grüne Industrien fördern und vor allem den Gesundheitsdienst NHS aufpäppeln, um die absurden Wartelisten für Patientinnen und Patienten zu verkürzen. Ende Oktober dann posierte Rachel Reeves gut gelaunt vor ihrem Amtssitz in Downing Street 11, in der Hand den roten Lederkoffer, in dem britische Finanzminister traditionell ihren Haushaltsentwurf ins Parlament hinübertragen. Der Plan: All die teuren Vorhaben sollten sich nicht, wie üblich, durch breite Steuererhöhungen finanzieren, sondern in erster Linie durch das „größte Wachstum aller G7-Länder“, wie es damals stets hieß.
Die Wirtschaft aber stagniert. Im dritten Quartal des vergangenen Jahres gab es gar kein Plus; und für die Zeit seither sieht nicht viel besser aus. Wenn überhaupt Wachstum zu spüren sein sollte, dann nur ein Bruchteil vom erhofften. Split the G. Weil gleichzeitig die Inflationsrate weiterhin bei mehr als den erwünschten zwei Prozent liegt (bei 2,5 Prozent nämlich), fürchten manche Experten bereits eine Stagflation, also einen fatalen, zähen Mix der beiden Miseren.
Schuld daran ist laut der konservativen Presse im Land einzig und allein die immer noch neue Finanzministerin: „Ich habe damit angefangen, Rachel Reeves’ dumme Fehler zu zählen, aber ich musste bei 20 aufhören – er war zu schmerzhaft“, überschrieb am Sonntag ein Kommentator des Daily Express seinen Text. Geht es nach den vielen Kritikern, hat Labour als Regierungspartei vieles versucht und vieles verbockt: Sie strich mehr als zehn Millionen Rentnern den winterlichen Energiezuschuss – und galt auf einmal als hartherzig. Sie gewährte Ärzten, Lehrern und anderen im öffentlichen Sektor Tätigen satte Lohnerhöhungen – und wurde kritisiert, mit den entsprechenden Gewerkschaften zu klüngeln. Sie kündigte an, dass bislang verschonte Ausländer („non-doms“) auf Einkommen, das sie außerhalb des Königreichs verdienen, künftig im Inland Steuern zahlen müssen – und konnte zusehen, wie im Jahr 2024 mehr als 10 000 Millionäre Großbritannien verließen. Sie erhöhte die Sozialabgaben für Arbeitgeber – und verärgerte damit die Firmen, die diese Kosten sogleich an die Angestellten weitergaben oder mit der Maßnahme Entlassungen rechtfertigten.
Die Wirtschaft des Königreichs leidet nicht nur an der Gegenwart
Jedenfalls waren Unternehmen im Dezember und im Januar so pessimistisch wie seit mehr als zwei Jahren nicht mehr, teilte die Lobby-Gruppe Confederation of British Industry (CBI) am Montag nach Auswertung einer Umfrage mit. Allgemein werde ein deutlicher Rückgang der Geschäftstätigkeit erwartet. Und auch wenn die Gründe dafür eher woanders, vor allem in den USA, zu suchen sind: Dass auf den Finanzmärkten kürzlich die Renditen für Staatsanleihen in die Höhe schossen, was die Kreditkosten des hochverschuldeten Königreichs empfindlich hat steigen lassen, schwächt Rachel Reeves noch mehr. Nur 13 Prozent der Briten denken laut Yougov-Umfrage, dass sie einen guten Job macht.
Das Institut fragte die Briten übrigens auch danach, zu welchem Handelspartner die Beziehungen verbessert werden sollten. Auf dem dritten Platz landete China (vier Prozent), auf dem zweiten die USA (21 Prozent) und auf dem ersten: die EU (46 Prozent). Dass der Brexit ein Fehler war, sagen mittlerweile beständig mehr als die Hälfte der Befragten.
Und damit zur Urgeschichte der Katerstimmung. Die Wirtschaft des Königreichs leidet nicht nur an der Gegenwart, sondern auch an der Vergangenheit. Achteinhalb Jahre ist es her, dass eine knappe Mehrheit für den Austritt Englands, Schottlands, Nordirlands und Wales’ gestimmt hat. Die Auswirkungen des Austritts dreieinhalb Jahre später sind unabhängig vom täglichen Regierungsgeschäft noch heute zu spüren – das ist das andere Erbe der Tories.
Das Königreich wäre, wenn es in der EU geblieben wäre, heute 140 Milliarden Pfund (167 Milliarden Euro) reicher. Bis 2035 steigt die errechnete Zahl auf 311 Milliarden, es wird dann geschätzt drei Millionen Jobs weniger geben als in einem „Remain“-Szenario, 32 Prozent weniger Investment, einen um 16 Prozent niedrigeren Import und einen um fünf Prozent niedrigeren Export. Auf diese Zahlen kommt zumindest eine von Londons Bürgermeister, Sadiq Khan, in Auftrag gegebene und 2024 veröffentlichte Studie der Beratungsfirma Cambridge Econometrics.
Khans Labour-Partei nun will den Brexit nicht rückgängig machen, das Volk ist noch zu traumatisiert, um es ein weiteres Mal in diese Entscheidungsschlacht zu drängen. Aber die Handelsbeziehungen zur EU sollen spürbar enger werden. Überhaupt soll alles, was Wachstum verspricht, noch radikaler, unbürokratischer und unregulierter vorangetrieben werden, und zwar hurtig. Denn es gibt keinen Plan B zum Plan G.
Reeves überraschte in den vergangenen Tagen dann auch mit extravaganten, fast verzweifelt anmutenden Vorschlägen. Großbritannien solle seine Stärken international selbstbewusster präsentieren, um Investoren anzulocken, sagte sie und nannte als polterndes Vorbild ausgerechnet US-Präsident Donald Trump. Dass sie noch vor dessen Amtseinführung nach China gereist ist, hat indes Experten verwundert, da hätte man auch erst einmal abwarten können, wie sich USA und China so vertragen. Zumal sich das Königreich bald ohnehin zwischen den USA und der EU hin- und hergerissen fühlen dürfte, etwa bei Zoll-Abkommen.
Nebenbei dürfte die Non-dom-Regelung wieder entschärft werden. Am spektakulärsten aber ist ihre angedeutete Bereitschaft, dem Flughafen in Heathrow, jetzt schon der größte in Europa, eine dritte Startbahn zuzugestehen. Das Wachstumsziel sei Mission Nummer eins, sagte sie in Davos, und damit wichtiger als das bislang so zentrale „Net Zero“-Ziel, also Klimaneutralität. Ähnlich Provokantes ist von ihrer großen Ruck-Rede an diesem Mittwoch zu erwarten, in der sie die Bürgerinnen und Bürger auf weitere Wachstumsschmerzen vorbereiten wird.
Ein kleiner Lichtblick vielleicht in diesen dunklen Tagen: Eine Branche dürfte schon am Wochenende einen „Kickstart“ (auch eines von Reeves’ Lieblingswörtern) erleben, über Nacht quasi – Freitag Mitternacht endet der Dry January.