Politik

Wirtschaft in Gaza: In 350 Jahren zum Vorkriegszustand | ABC-Z

Patrick Kaczmarczyk ist Berater bei der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD) und Ökonom an der Uni Mannheim. Von 2018 bis 2019 arbeitete er an einem Forschungsprojekt für das Palestine Economic Policy Research Institute (MAS) über Maßnahmen zur Stabilisierung der Kapitalmärkte in Palästina und die Schaffung ökonomischer Grundlagen für eine Zweistaatenlösung.

Seit mehr als einem Jahr herrscht Krieg in Nahost, ohne dass ein Ende absehbar ist. Im Gegenteil weitet sich der Konflikt aus, sowohl regional als auch im Ausmaß der Gewalt.
Die Aussicht auf einen nachhaltigen Frieden in der Region scheint ferner denn
je.

Nicht nur politisch und gesellschaftlich, auch ökonomisch
sind die bereits entstandenen Schäden enorm, vor allem im Gazastreifen. In den
vergangenen Wochen haben internationale Organisationen ihre Einschätzungen
veröffentlicht, darunter die Weltbank sowie verschiedene UN-Organisationen, wie
die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und zuletzt die UN-Organisation
für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD). Die Ergebnisse sind verheerend.

Schon vor dem Krieg herrschte Armut

Um den Einbruch einzuordnen, muss beachtet
werden, dass die Lage im Gazastreifen bereits vor Israels militärischer Antwort
auf den Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 – bei dem mehr als 1.200 Menschen getötet
und zahlreiche Geiseln genommen wurden – nach 57 Jahren Besatzung und 17 Jahren
Blockade katastrophal war. In den vergangenen 30 Jahren halbierte sich das
reale Pro-Kopf-Einkommen
nahezu – von 2.328 US-Dollar im Jahr
1994 auf 1.257 US-Dollar im Jahr 2022. Damit
lag das Einkommensniveau in Gaza unter dem von Regionen wie dem subsaharischen
Afrika
, wo das Pro-Kopf-Einkommen 2022 im Durchschnitt 1.644 US-Dollar betrug. 

Die
Arbeitslosigkeit in Gaza stieg seit Mitte der 1990er-Jahre von 29 Prozent auf
45 Prozent im Jahr 2022 – was einer der höchsten Raten der Welt entspricht. Zwei
Drittel der Bevölkerung lebten in Armut, 80 Prozent waren auf internationale
Hilfslieferungen angewiesen
, da die Blockade den Zugang zu wesentlichen
Dienstleistungen und Gütern erheblich einschränkte. Kurz:
Ein Leben in Gaza vor schon dem Krieg war geprägt von Armut.

Mit dem Krieg hat sich diese Situation verschärft. Nach den zuletzt
verfügbaren Zahlen aus dem August 2024 wurden bei den israelischen Militäroperationen
in Gaza bisher mindestens 40.000 Menschen getötet und mehr als 92.000 verletzt.
Mehrere Tausend werden noch vermisst. Das, was an Strukturen für die Wirtschaft
und Gesellschaft noch übrig geblieben ist, sind Ruinen.  

Das BIP ist Anfang 2024 um 86 Prozent eingebrochen

Vor dem Hintergrund der prekären materiellen Lage
erscheinen die jüngsten Zahlen zum ökonomischen Kollaps im Gazastreifen
alarmierend. Schätzungen der Weltbank zufolge brach Bruttoinlandsprodukt (BIP)
in Gaza Anfang 2024 um 86 Prozent ein, was von UNCTAD vor Kurzem in ähnlicher Größenordnung bestätigt wurde. Sektorale
Daten zeigen das Ausmaß des Zusammenbruchs über alle Bereiche hinweg: Der
Bausektor verzeichnete einen Rückgang von 96 Prozent, die Landwirtschaft um 93
Prozent, die Industrie um 92 Prozent und selbst der Dienstleistungssektor
schrumpfte um 76 Prozent. Damit kam die ohnehin fragile Wirtschaft des
Gazastreifens nahezu vollständig zum Stillstand.

Das Pro-Kopf-Einkommen könnte bis Ende des Jahres auf nur
noch 225 US-Dollar pro Jahr fallen – das wären lediglich 18 Prozent des bereits
niedrigen Niveaus von 2022. Die ILO rechnet sogar mit einem Rückgang auf 181
US-Dollar. Damit würde die Bevölkerung des Gazastreifens zu den ärmsten der
Welt gehören und das Niveau von Burundi unterbieten, wo das Pro-Kopf-Einkommen
2023 bei 273 US-Dollar lag. 

Die Arbeitslosenquote beträgt
infolge der Zerstörungen mittlerweile 82 Prozent, mit weiter steigender
Tendenz. Fast die gesamte Bevölkerung lebt in Armut, und 96 Prozent der
Menschen – 2,15 Millionen Personen – leiden unter akuter
Ernährungsunsicherheit, wobei 22 Prozent (etwa eine halbe Million Menschen)
bereits die schwerste Stufe der Ernährungsunsicherheit erreicht haben. Im
Norden Gazas betrug die tägliche Kalorienzufuhr bereits im April 2024 lediglich
245 Kalorien pro Person, was dem Nährwert einer Dose Bohnen entspricht.

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