Politik

„Wird sein Versprechen brechen“: Macht der Merz-Plan Deutschland sicherer? | ABC-Z

Der Fünf-Punkte-Plan der Union für eine radikale Kehrtwende im Migrationsrecht führt zum Eklat im Bundestag. Einzelne Maßnahmen stehen zudem im Widerspruch zu EU-Recht. Die Konservativen rechtfertigen ihr Vorhaben mit der Sicherheit des Landes. Doch Experten halten diesen Ansatz für falsch.

„Wie viele Menschen müssen noch ermordet werden?“, rief CDU-Chef Friedrich Merz den Abgeordneten bei der Abstimmung über die Anträge zur Verschärfung des Migrationsrechts am vergangenen Dienstag entgegen. Fest entschlossen, das deutsche Migrations- und Asylrecht grundlegend zu reformieren, macht die Union ihr Vorhaben nicht nur zum alles dominierenden Thema des Wahlkampfs. Sie sorgt auch für ein Erdbeben im politischen Berlin, kratzt am Rechtsstaat und stellt „Germany first“ über die Zusammenarbeit in der EU.

Besonders stark umstritten sind die von der Union geforderten generellen Zurückweisungen von Schutzsuchenden an der deutschen Grenze sowie die dauerhafte Inhaftierung von Ausreisepflichtigen. So drastisch diese Maßnahmen, so gerechtfertigt ist es für die die Union – geht es ihr zufolge – wie von Merz im Bundestag auf den Punkt gebracht – um Leben und Tod. Immer wieder erinnern die Konservativen an die verheerenden Gewalttaten von Aschaffenburg, Magdeburg und Solingen.

Die verheerenden Verbrechen der vergangenen Monate zeigen zweifellos: Die innere Sicherheit des Landes ist ein fragiles Gut, sie aufrechtzuerhalten eine der wichtigsten Aufgaben des Staates. Doch sind die folgenreichen Pläne der Union geeignet, dieses Ziel zu erreichen?

Mehr Zugewanderte gleich mehr Kriminalität?

Zunächst einmal müsse man sich fragen, inwiefern Deutschland tatsächlich mit einem Sicherheitsproblem konfrontiert ist, sagt Gewaltforscher Dirk Baier im Gespräch mit ntv.de. „Denn eine völlig gewaltfreie Gesellschaft ist natürlich eine Utopie.“ Tatsächlich ist die Zahl der Gewaltdelikte in den vergangenen Jahren gestiegen, wie ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik belegt. „Allerdings waren die Zahlen vor 15 Jahren ähnlich hoch. Von einer absoluten Ausnahmesituation kann man also nicht sprechen“, betont Baier. Trotzdem stehen Gewalttaten im Fokus der Aufmerksamkeit. Das Sicherheitsgefühl nimmt ab, der Wunsch an die Politik, sich um das Thema zu kümmern, zu. „Damit haben wir einen Handlungsdruck.“ Die Bekämpfung von Kriminalität zu einem zentralen Vorhaben zu machen, ist also richtig.

Der Haken an den Maßnahmen der Union liege woanders, sagt Baier. So beschränken sie sich ausschließlich auf die Kriminalität von Zugewanderten. „Das spiegeln die Zahlen allerdings nicht wider.“ Denn der Anstieg der Zahlen gehe nicht auf eine Gruppe, etwa Asylsuchende, zurück. Vielmehr ziehe sich das gestiegene Gewaltverhalten durch die gesamte Bevölkerung. „In der Forschung können wir keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Merkmal Migration und Kriminalität feststellen.“ Dass die Gleichung ‚mehr Zugewanderte gleich mehr Kriminalität‘ nicht aufgeht, zeigt zudem die Entwicklung von 2005 bis 2020: Während deutlich mehr Menschen ins Land kamen, nahm die Zahl der Gewaltdelikte stetig ab.

Bei dem Blick in die PKS fällt jedoch auf, dass Zugewanderte im Verhältnis häufiger zu Tatverdächtigen werden als etwa Menschen mit deutschem Pass. „Die Beobachtung ist richtig und wichtig“, sagt der Migrationsforscher Jochen Oltmer im Gespräch mit ntv.de. Allerdings werde daraus häufig die falsche Schlussfolgerung gezogen. „Schutzsuchende sind nicht per se krimineller. Sie bilden aber eine Gruppe, die es überdurchschnittlich oft mit Faktoren zutun hat, die Kriminalität begünstigen.“ So gebe es unter den Geflüchteten etwa viele junge Männer. Dass genau diese Gruppe – junge Männer im Allgemeinen – für einen Großteil der Straftaten verantwortlich ist, ist lange bekannt.

„Kriminalität ist hausgemacht“

Hinzu kommen etwa eine prekäre Lebenssituation, Gewalterfahrungen, schlechte Bildungs- und Jobaussichten sowie teilweise toxische Männlichkeitsbilder. Der Forschung zufolge alles Faktoren, die Kriminalität befeuern – sowohl bei Deutschen als auch bei Nicht-Deutschen. Allerdings kommen sie bei Zugewanderten eben besonders häufig vor, was den überproportionalen Anteil an Tatverdächtigen erklärt.

„Kriminalität ist eben nicht importiert, sondern in vielen Fällen hausgemacht“, fasst es die Soziologin Gina Wollinger im Gespräch mit ntv.de zusammen. So spiele etwa auch die Bleibeperspektive eine Rolle. Tatsächlich war diese 2023 beispielsweise für Menschen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak deutlich besser als für Menschen aus den Maghreb-Staaten. Während erste deutlich seltener strafrechtlich auffällig wurden, waren Menschen aus letzteren Staaten überproportional oft unter den Tatverdächtigen vertreten. Einen entsprechenden Zusammenhang hat auch das LKA Niedersachsen nachgewiesen.

Ein weiterer Faktor, der wegen des psychisch kranken Täters von Aschaffenburg vor allem in den vergangenen Tagen vielfach diskutiert wurde, ist die psychische Betreuung. Diese sei vor allem bei Geflüchteten prekär, erklärte Lukas Welz, Geschäftsleiter des Dachverbands Psychosozialer Zentren, im Gespräch mit ntv.de. Dabei ist das Bedürfnis nach Aufarbeitung angesichts traumatischer Erfahrungen im Heimatland oder auf der Flucht gerade in dieser Gruppe hoch, was schließlich auch zu einer Bedrohung der inneren Sicherheit werden kann. „Wir würden sicher auch mehr delinquente Auffälligkeiten von deutschen Bundeswehrsoldaten (Kriegsveteranen) erleben, wenn diese nicht psychiatrisch und psychotherapeutisch gut versorgt werden würden“, sagt der Kriminologe Rafael Behr in diesem Zusammenhang zu „Buzzfeed Deutschland“.

„Populismus pur“

Möchte man Kriminalität also effektiv bekämpfen, sollte man anfangen, diese lange bekannten Risikofaktoren auszumerzen, mahnt Oltmer. „Das Merkmal Migration gehört aber eben nicht dazu.“ Der Migrationsforscher geht daher nicht davon aus, dass die Maßnahmen der Union, sollten sie nicht bereits an der praktischen Umsetzung scheitern, einen merklichen Einfluss auf die Kriminalitätsentwicklung hätten. „Dafür sind sie deutlich zu unterkomplex und wenig zielgerichtet.“ Die Grenzen zu schließen, würde zwar Tausende Menschen außer Landes halten. „Wir sehen ja aber zum Beispiel, dass kriminelle Aktivitäten viel häufiger bei Menschen auftreten, die schon seit Jahren oder Generationen im Land sind.“ Viele dieser Menschen könnten selbst nach der radikalen Migrationskehrtwende der Union nicht abgeschoben werden.

Im Grunde zeigen sogar die jüngsten Verbrechen, die von der Union stets als Beispiel für ihren Handlungsdruck genutzt werden, wie wenig zielführend ihre geplante Lösung sei, sagt der Polizeiwissenschaftler Baier. Zwar wäre die Gewalttat von Aschaffenburg möglicherweise verhindert worden, da der Täter als Ausreisepflichtiger nach den Regeln der Union in Haft gegessen hätte. „Aber schon im Fall Magdeburg hätten die Maßnahmen nichts gebracht und auch bei Solingen bin ich sehr skeptisch.“ Schon der kurze Rückblick zeige, wie wenig umfassend der Einfluss eines Gesetzes ist, „wenn man es versucht, um einen bestimmten Fall zu stricken“.

Das geplante Gesetz werde sein Versprechen, Kriminalität zu begrenzen und Sicherheit zu fördern, brechen, sagt Baier und wird noch deutlicher: „Es ist blauäugig und am Ende auch Populismus pur, Gewaltkriminalität an an das Migrationsthema zu knüpfen. Wenn es uns ernst ist, sollten wir anfangen, diese Themen zu trennen.“ Nicht zuletzt auch deswegen, weil die Bekämpfung von anderen – großen – Gewaltbereichen wie etwa häusliche Gewalt durch die arrangierte Verknüpfung von Migration und Kriminalität immer wieder in den Hintergrund rutscht. Und auch das dürfe nicht vergessen werden, mahnt Baier: „Mit Maßnahmen wie jenen aus dem Fünf-Punkte-Plan bestrafen wir die ganz große Mehrheit der Migrantinnen und Migranten, die sich gesetzeskonform verhalten, mit.“

„Fragen ja auch nicht: ‚Wirtschaft ja oder nein?'“

Soziologin und Kriminologin Wollinger stellt aus diesem Grund schon die Ausrichtung der aktuellen Debatte infrage. „Im Prinzip stellen wir uns gerade die Frage: ‚Migration ja oder nein‘, obwohl es an dem Fakt Migration in Deutschland doch wenig zu rütteln gibt.“ Zum einen kann auch eine restriktive Migrationspolitik nicht verhindern, dass es zu Einwanderung kommt, immerhin liegt Deutschland im Zentrum der EU und hat viel Grenzverkehr. Zum anderen ist das Land auf etwa Arbeitsmigration angewiesen. „Bei Wirtschaftsproblemen stellen wir uns ja auch nicht die Frage: ‚Wirtschaft ja oder nein?'“, fährt Wollinger fort. „Vor diesem Hintergrund halte ich das aktuelle Angebot für populistisch. Es wird weder die Herausforderungen der Migration lösen noch zu wesentlich weniger Kriminalität im Land führen.“

Im schlimmsten Fall tritt sogar der gegenteilige Effekt ein. So hat Deutschland eine knapp 4000 Kilometer lange Grenze, die an vielen Stellen durch Gebiete wie Wälder verläuft. „Es ist utopisch, die gesamte Strecke zu überwachen, mal ganz abgesehen von dem Personal, das benötigt würde“, sagt Oltmer. Damit nehme die Gefahr für Schleuserkriminalität drastisch zu. Die direkte Verbindung von Delikten aus diesem Bereich und stärkeren Grenzkontrollen beobachtet die Forschung seit langer Zeit. Zudem führen scharfe Debatten über Migration, wie sie derzeit geführt werden, nicht selten zu einem Generalverdacht gegen Zugewanderte, sagt der Migrationsforscher weiter. Dass dieser schließlich rassistische Gewalt fördert, weil etwa gerade junge Männer sich aufgefordert fühlen, die aktuelle Politik zu unterstützen, sei nicht neu. „Ich erinnere an die 90er-Jahre, die nicht umsonst auch als Baseballschläger-Jahre bekannt waren.“

Dass die Maßnahmen der Union – der strenge Fokus auf die Migrationspolitik – geeignet sind, einen wesentlichen Beitrag zur inneren Sicherheit zu leisten, glaubt keiner der Expertinnen und Experten. Stattdessen, auch da sind sie sich einig, sollten Aufmerksamkeit und Kraftanstrengungen in die Bekämpfung von Risikofaktoren und die Kooperation sowie Koordination von Behörden gesteckt werden. Funktionierende Beispiele dafür gibt es bereits, etwa das Bedrohungsmanagement vieler Kantone in der Schweiz, wie Baier erklärt. Der Einsatz, den die Union dafür auf den Tisch legen müsste, wäre deutlich geringer – und der Gewinn wahrscheinlich weitaus höher.

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