Wird in Deutschland noch Mode hergestellt? | ABC-Z

An der Berger Straße, einer der wichtigsten Einkaufsstraßen in Frankfurt, herrscht hohe Bioladen-Dichte mit lauter regionalen, nachhaltigen und fair gehandelten Dingen im Angebot: Die Jeans sind wassersparend hergestellt, das Getreide fürs Brot kommt vom Acker des Vertrauens, das Salatbesteck ist made in Hessen. Aber selbst hier, wo der Platz begrenzt und teuer ist, wird das Wenigste von dem, was zum Verkauf steht, direkt vor der Haustür, also genau hier, hergestellt worden sein.
100 Meter abseits der Berger Straße rattern an diesem Vormittag trotzdem die Nähmaschinen. Eine davon bedient Mansoure; seit knapp zehn Jahren ist das ihr Arbeitsplatz. Eva und Birgit kümmern sich derweil um den Zuschnitt. Und ein paar Tische weiter liegen gut 70 Tanktops aus Samtstoff zur Qualitätskontrolle bereit. Es sind die typischen Eindrücke aus einer Textilproduktion. Nur: Diese befindet sich nicht etwa im Industriegebiet eines EU-Randlandes oder noch weiter weg, sondern mitten in der Hochlohnstadt Frankfurt, im begehrten Viertel Bornheim. Und in dieser Produktionsstätte, die sich über mehrere Etagen streckt, steht jetzt Hannah Zundel, schwarze Leggings, weißes Oberteil, dunkelblauer Blazer. „Meine Arbeitsuniform“, sagt sie.
Hannah Zundel kommt nicht von hier, sondern lebt in Salzburg, man hört es ihr an. Aber der Blazer, den sie heute trägt, der wurde hier produziert, im Atelier von Stitch by Stitch an der Mainkurstraße in Frankfurt-Bornheim. Zundel reicht den Blazer zum Reinschlüpfen: 580 Gramm Kaschmir, „das Futter haben wir weggelassen, weil der Stoff allein so toll war“, sagt sie.
Es ist einer von vielen Entwürfen, der zeigt, dass Mode eben sehr wohl lokal gefertigt werden kann. Gut 30 Designerinnen und Designer arbeiten mit Stitch by Stitch zusammen, dieser Produktionsstätte, die es in Zeiten, da die Fertigung unserer Bekleidung doch längst weiträumig und in weit entfernte Länder ausgelagert ist, gar nicht mehr geben dürfte.
Claudia Frick eröffnete Stitch by Stitch zusammen mit ihrer Geschäftspartnerin Nicole von Alvensleben 2016, um damit unter anderem eine Perspektive für geflüchtete Frauen zu schaffen. Der Zeitpunkt passte: Im Jahr zuvor waren viele aus Syrien gekommen. Die Arbeit im Textilatelier sollte eine Möglichkeit sein, diese Frauen in Deutschland in den Arbeitsmarkt zu bringen und damit ein Stück weit zu integrieren. Zugleich wollte Frick mit Stitch by Stitch kleinen Labels die serielle Produktion in Deutschland ermöglichen.
Lokale Textilfertigung ist kein Ding der Unmöglichkeit
Es ist zwar nicht davon auszugehen, dass Deutschland in naher Zukunft das Produktionsland für Gebrauchsgüter wird, das es einmal war, denn unsere Lieferketten sind ja längst so optimiert, dass die meisten Produkte multinational gefertigt werden. Aber unmöglich ist lokale Textilfertigung, zumal für kleinere Unternehmen, eben auch nicht, das wird am Beispiel Hannah Zundels deutlich. Im September vergangenen Jahres hat sie ihr Label HanZ offiziell gegründet; dem voraus gingen Monate, in denen sie mit den Näherinnen in Frankfurt an den Modellen gearbeitet hatte. „Hier ist nicht irgendwo“, sagt Zundel. „Die Prozesse sind lesbar, eine Schneiderin näht ein komplettes Teil.“ Auch das überzeugte Zundel, bei Stitch by Stitch fertigen zu lassen.

In der Textilindustrie ist das Beispiel die Ausnahme. Während Ultra-Fast-Fashion-Unternehmen wie Shein ihren Arbeitern in China gerade mal einen Tag im Monat freigeben, so berichtete die britische BBC Anfang des Jahres, oder während selbst ein Luxuslabel aus Italien wie Loro Piana seit diesem Sommer unter gerichtlicher Aufsicht steht, weil es auch auf EU-Boden keine Mindeststandards garantiert, ist hier an einem Whiteboard notiert: „1 Arbeitstag 8 Stunden. ½ Arbeitstag 4 Stunden.“ Auch Zundel sagt: „Ich möchte, dass jeder Arbeitsschritt, der in einem Kleidungsstück steckt, transparent ist. Das geht nicht, wenn meine Fertigung in Portugal stattfindet. Da kann ich nicht so häufig hinreisen, es gibt eine Sprachbarriere und ganz viel, was ich nicht zu sehen bekomme.“
Neustart nach zwei Jahrzehnten als Designerin
Für Zundel, 43 Jahre alt, ist das eigene Label ein Neuanfang, dabei hat sie als Designerin schon einiges hinter sich. Sie kommt ursprünglich aus Süddeutschland. Vor mehr als zwei Jahrzehnten schloss sie ihr Modestudium am Lette Verein in Berlin ab, es folgten einige Jahre mit einem eigenen Label, Etikette, als Teil eines Kollektivs in Berlin. So wie es damals viele junge Designer machten, als die Stadt noch günstiger war und ihre Kreativen folglich experimenteller. Allerdings: Auch Zundel fehlten tragende finanzielle Strukturen und Erfahrung als Designerin. „Irgendwann habe ich mir zu viele Gedanken darüber gemacht, wie ich das Produkt vermarkte, und darüber die Freude daran verloren“, sagt sie. Sie studierte noch mal – Kunstgeschichte – und führte später eine eigene Galerie am Strausberger Platz. Dann lernte sie ihren späteren Ehemann kennen, einen Österreicher, zog mit ihm nach Salzburg, bekam drei Kinder und gewöhnte sich irgendwann den österreichischen Zungenschlag an. Für die Kinder und sich selbst nähte Zundel weiterhin Kleidung, und so wuchs der Wunsch, auch wieder für Kundinnen zu arbeiten.

Nur eben anders, anders als damals als Teil von Etikette und anders, als die Industrie es für gewöhnlich hält. Stattdessen mit Frauen wie Eva, Birgit und Mansoure. Und Tetiana, die in einer der oberen Etagen gerade eine Nachbestellung Hemden bearbeitet. In Salzburg steht Ende November ein Pop-up-Store an. Die Schnitte hat Zundel von Anfang an mitentwickelt. „Es geht mir nicht allein um die Frage, wie ich ein Kleidungsstück gestalte, sondern auch, welche Verantwortung damit verbunden ist“, sagt sie. Sie möchte ihre Kleidung also nicht nur konsumiert, sondern überhaupt verstanden wissen. Dass es Stücke sind, die über Jahrzehnte im Kleiderschrank verbleiben, dass sie immer wieder zum Einsatz kommen und mit ihren Besitzerinnen altern. Dass sie eben nicht nach ein paarmal Reinigen unbrauchbar sind.
So nah wie Zundel am Produkt arbeitet, ist sie auch an ihren Kundinnen, die übers Hörensagen zur ihr finden. Oder wie die Designerin sagt: „Ich verkaufe über mein Netzwerk, ich mache Präsentationen.“ Und dann hört vielleicht die Architekturprofessorin zu, die Zundel wiederum bittet, doch auch noch mal vor ihrem Netzwerk zu sprechen. „So spinnt sich das weiter.“ So will sie ihr Label bekannter machen, ohne das Produkt aus den Augen zu verlieren. Beruflich ist das jetzt ihr Modell.
Und auch für die Familie gibt es eins: Zu 50 Prozent ist sie verantwortlich, zu 50 Prozent ihr Mann, gewechselt wird wochenweise. Zumindest in der Theorie klingt die Aufteilung deutlich einfacher als der Spagat, den Familien mit Kindern in der Praxis meistens erleben. Weil der größte Teil der Sorgearbeit trotz Berufstätigkeit häufig an der Mutter hängenbleibt. In den Wochen, in denen Zundel also für die Kinder da ist, arbeitet sie halbtags. In den Wochen, in denen ihr Mann zuständig ist, arbeitet sie in Vollzeit, und nur dann ist sie ab und an in Frankfurt. „Aber wir sind trotzdem noch eine Familie und essen zum Beispiel gemeinsam zu Abend. Das funktioniert.“ Und dann sagt Hannah Zundel zwei Sätze, mit denen sie eigentlich ihr Familienmodell beschreibt, die aber auch auf den Zustand der Fertigung von Bekleidung anwendbar sind: „Eigentlich kann man alles umsetzen. Ich glaube, es ist häufig deutlich mehr Musik drin, als man denkt.“





















