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„Wir brauchen eine vernünftige Einwanderungspolitik mit klaren Kriterien“ | ABC-Z

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Hasnain Kazim ist Autor und Journalist mit indisch-pakistanischen Wurzeln. Ein Jahr lang fuhr er mit dem Fahrrad durch Deutschland. Im Interview erzählt er, was er über AfD-Wähler gelernt hat – und warum ihn eine Aktivistin für einen „alten weißen Mann“ hielt.



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FOCUS online: Herr Kazim, Sie sind ein Jahr lang mit dem Rad durch Deutschland gefahren und dabei auch in vielen ostdeutschen Kommunen gewesen. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?

Hasnain Kazim: Zum einen: Man kann wunderbar in Deutschland Fahrrad fahren, die Infrastruktur ist gut. Zum anderen habe ich für mich beantwortet, was „deutsche Leitkultur“ ist.

Und zwar?

Kazim: Ein Bogen unserer Kultur, Sprache, Geschichte, Religion und Küche. Und der ist sehr weit gespannt. Ich habe festgestellt, dass Deutschland sehr vielfältig ist. Und dass Gespräche mit Menschen, die einem sonst feindlich gegenüberstehen, nicht nur möglich, sondern in den meisten Fällen auch angenehm sind.

Welche Begegnungen sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Kazim: Einige. Ich war in vielen ostdeutschen Orten, die den Ruf haben, rechtsextrem zu sein – zum Beispiel Bautzen, Görlitz oder Chemnitz. Dort habe ich Menschen getroffen, die sich sehr für Weltoffenheit, Demokratieförderung und Toleranz einsetzen. Das ist zeitweise hochriskant. Wer sich an solchen Orten für Flüchtlinge engagiert, dem werden zum Teil die Autoreifen aufgeschlitzt. Außerdem wird den Betroffenen Gewalt angedroht.

Dass sich Menschen diesen Umständen zum Trotz für Toleranz stark machen, hat Sie also beeindruckt.

Kazim: Ja. Eine andere Begegnung ist mir dagegen negativ in Erinnerung geblieben.

Welche?

Kazim: Es ging um eine Anti-Rassismus-Aktivistin, mit der ich mich in Hamburg verabreden wollte. Wir hatten uns im Vorfeld oft auf Twitter gestritten. Als ich an der Elbe entlangfuhr, fasste ich den Entschluss, sie nach einem persönlichen Treffen zu fragen. Sie hat erst abgelehnt und sich später, nach vielen, vielen Nachfragen, doch darauf eingelassen.

„Sie hielt mich für einen alten weißen Mann“

Warum hatten Sie sich denn mit ihr gestritten?

Kazim: Unsere Sichtweisen gehen teilweise weit auseinander. Sie hielt mich für einen alten weißen Mann.

Sie sollen ein alter weißer Mann sein?

Kazim: Ich habe schon vor einiger Zeit gelernt, dass „alter weißer Mann“ eine politische Kategorie ist. Auch als junge, nicht-weiße Frau kann man ein „alter weißer Mann“ sein. Es ist, das habe ich festgestellt, eine Frage der Haltung.

Zurück zu Ihrer unerfreulichen Begegnung. Welche Sichtweisen prallten denn aufeinander?

Kazim: Die Anti-Rassismus-Aktivistin vertrat zum Beispiel die Meinung, dass es keinen Rassismus gegen Weiße gibt. Das sehe ich anders – weil natürlich auch Weiße diskriminiert werden können. Am Ende war das Gespräch nur ein Austausch von Aussagen, wirklich weitergebracht hat es mich nicht.

Warum nicht?

Kazim: Es ging meiner Gesprächspartnerin nur darum, ihren Standpunkt klar zu machen, nicht darum, ihn vielleicht auch mal selbstkritisch zu hinterfragen. Inzwischen hat sie mich auf Twitter blockiert.

Klingt so, als wäre das für Sie ein grundlegenderes Thema.

Kazim: Ist es auch. Mich stört, wenn Identitätspolitik das bestimmende Element ist. Ich denke zum Beispiel an das Thema kulturelle Aneignung. Wir reden allen Ernstes darüber, wer wessen Texte übersetzen darf, wer welche Frisuren tragen darf.

Eine weiße Frau mit Rastalocken? Unerträglich. Ein alter, weißer Geschichtsprofessor, der das Werk eines jungen, schwarzen Poeten übersetzt? Nicht zumutbar. Was sind das bitte für unsinnige Haltungen und Forderungen?

Warum?

Kazim: Das Kernthema ist doch: mehr Gerechtigkeit. Dass Menschen, die nach Deutschland kommen und erkennbar aus einem anderen Land stammen, die Chance bekommen sollten, gleichberechtigte Mitglieder unserer Gesellschaft zu werden, finde ich völlig richtig. Das Problem ist, dass manche Aktivisten Hautfarbe, Geschlecht oder Herkunft zum entscheidenden Kriterium machen.

Über den Interviewpartner

Hasnain Niels Kazim ist ein deutscher Autor und Journalist. Er war Südasien- und Türkei-Korrespondent für “Spiegel Online” und engagiert sich gegen Rassismus und Populismus. Sein neuestes Buch heißt: “Deutschlandtour. Auf der Suche nach dem, was unser Land zusammenhält – Ein politischer Reisebericht”.

„Die Leute verwechseln Meinungsfreiheit oft mit Widerspruchsfreiheit“

Sie haben als Sohn indisch-pakistanischer Eltern ebenfalls einen Migrationshintergrund.

Kazim: Das stimmt. Ich bin in einem sehr weißen Dorf aufgewachsen und habe gelernt, dass Merkmale wie Hautfarbe, Herkunft, Alter, Geschlecht oder Religion eben keine Rolle spielen sollten. Jetzt fokussiert man sich meiner Meinung nach zu extrem darauf. So sehr, dass es manchmal nur noch darauf anzukommen scheint.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Kazim: Manche fordern, ein nicht-schwuler Schauspieler solle keine schwule Person spielen. Das führt seinen Job ad absurdum. Derjenige spielt eine Rolle, denn genau das ist es, was Schauspieler tun. Sie verkörpern nicht sich selbst, sondern Piraten, Außerirdische, Cowboys. Mich stört, dass das Thema, wer was machen darf und wer nicht, in vielen Bereichen ins Absurde gezogen wird.

Viele Deutsche sagen in Umfragen, sie hätten das Gefühl, mit freien Meinungsäußerungen vorsichtig sein zu müssen. Wie empfinden Sie das?

Kazim: Die Leute verwechseln Meinungsfreiheit oft mit Widerspruchsfreiheit. Wer seine Meinung sagt, muss auch Widerspruch aushalten können. Meinungsfreiheit gibt es also auf jeden Fall.

Wo ich allerdings auch ein Problem sehe, ist: Wer seine Sichtweise auf ein Thema äußert, wird schnell in eine Ecke gestellt. Dann ist man plötzlich Extremist, Terrorist, Nazi. Oft unterstellt man dem anderen die übelsten Absichten und macht aus einer unsensiblen Äußerung ein Riesenthema.

Woran liegt das?

Kazim: Manche Menschen schaffen es nicht, sich differenziert genug auszudrücken. Oder sie äußern sich absichtlich provokant – weil man mit krawalligen Aussagen mehr Aufmerksamkeit bekommt. Trotzdem lebt Demokratie vom Streit. Mein Fazit: Wir müssen differenzierter und oft auch sachlicher streiten.

Sie waren jetzt ein Jahr lang quer durchs Bundesgebiet unterwegs. Was würden Sie sagen: Warum wählen so viele Ostdeutsche AfD?

Kazim: Grundsätzlich wählen in ganz Deutschland viele Menschen AfD, das ist kein reines Ost-Phänomen. Ich fühle mich da in meiner früheren Einschätzung bestätigt: Wer die AfD wählt, ebnet Rechtsextremisten auf demokratischem Wege den Weg an die Macht. Ich würde aber nicht sagen, dass alle, die die Partei wählen, selbst Rechtsextremisten sind.  

Sondern?

Kazim: Mein Eindruck ist: Viele Menschen lesen keine Zeitung oder hören oder sehen keine Nachrichtensendungen. Viele informieren sich sehr eingeschränkt über die AfD – zum Beispiel über alternative Kanäle. Dabei müssten sie nur lesen, was Björn Höcke selbst schreibt.

„Ich glaube, AfD-Wählen ist keine reine Protestaktion mehr“

Was würden sie dann sehen?

Kazim: Wie er denkt. Höcke erklärt unter anderem, dass Deutschland einen Bevölkerungsrückgang von 20 bis 30 Prozent ertragen würde. Das sind weit mehr Leute als die, die gerade keinen Aufenthaltstitel haben. Was Höcke meint, ist relativ klar: „Remigration“, also, dass Menschen rausgeworfen werden. Er schreibt auch, dass man nicht um eine Politik der „wohltemperierten Grausamkeiten“ herumkommen werde.

Und Sie glauben: Das ist vielen AfD-Wählern gar nicht bewusst.

Kazim: Ja. Ich denke, viele sind gefrustet – von der Aufarbeitung der Corona-Krise, von der Diskussion über Klimaschutz, von der Migrationsdebatte. Sie wollen ihre Stimme nicht der Ampel geben und auch nicht der Union, die vorher am Zug war. Dann bleibt eben aus ihrer Sicht noch die AfD – oder das BSW.

Wie sind Sie damit umgegangen, wenn jemand seine Wahlentscheidung so gerechtfertigt hat? Also in den Gesprächen, die Sie während Ihrer Fahrradtour geführt haben.

Kazim: Ich habe immer gesagt: Ich verstehe euren Punkt. Aber es kann doch nicht sein, dass man aus Frust Extremisten seine Stimme gibt. Wer unzufrieden mit der Politik ist, der hat auch andere Möglichkeiten, als eine Partei am rechten Rand zu wählen. Er oder sie kann sich engagieren, in tatsächlich demokratischen Parteien oder Organisationen und die eigene Kritik, die eigenen Ansprüche direkt einbringen. Dann ändert sich Politik auch.

Wie wird es bei der Wahl in Brandenburg laufen? Die steht in wenigen Tagen an.

Kazim: Ich befürchte ein ähnliches Ergebnis wie in Sachsen und Thüringen. Die Menschen sind getrieben davon, was sie stört und wer – scheinbar – etwas dagegen tut. Dass die AfD in mehreren Bundesländern rechtsextrem ist, schreckt sie kaum ab.

Ich glaube, AfD-Wählen ist inzwischen keine reine Protestaktion mehr. Viele Menschen trauen der Partei leider wirklich zu, Probleme besser in den Griff zu bekommen als die anderen. Zum Beispiel in der Migrationspolitik.

Was können andere Parteien tun?

Kazim: Einige Menschen, mit denen ich gesprochen habe, meinten: Was Politik und Medien beschäftigt, ist hauptstädtisch, das ist nicht das, was uns betrifft. Ich sehe: Die Mehrheit der Bevölkerung lebt im ländlichen Raum. Wenn die Leute zum Beispiel weniger Auto fahren sollen, dann muss eine alternative Infrastruktur da sein. Wenn auf dem Land aber nur einmal pro Stunde ein Bus fährt, frustriert das die Menschen.


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„Die AfD hat zugelegt. Und die Brandmauer nicht funktioniert“

Ist es in Ihren Augen undemokratisch, Brandmauern gegen die AfD zu errichten? Es gibt Experten, die sagen: Die Partei komplett auszugrenzen, ist problematisch – weil so ein Teil des demokratisch gewählten Parlaments von der politischen Mitgestaltung ausgeschlossen wird.

Kazim: Ich habe dazu keine abschließende Meinung. Ich kann beide Positionen verstehen – die, die eine maximale Abgrenzung fordern und die, die sagen, so funktioniert nun mal Demokratie.

Was ist Ihre persönliche Meinung?

Kazim: Grundsätzlich möchte ich die AfD nicht in Regierungsverantwortung sehen. Allerdings ist es von Wahl zu Wahl schlimmer geworden. Die AfD hat zugelegt. Und die Brandmauer nicht funktioniert. Wenn irgendwann 50 Prozent der Menschen die Partei wählen, was ich nicht hoffe, stellt sich die Frage nach einer Abschottung nicht mehr.

Was bedeutet das also?

Kazim: Die AfD klein zu bekommen, das geht in meinen Augen nur mit einer besseren Politik. Ich bin aber dagegen, aus Prinzip generell alles abzulehnen, was die AfD fordert. Es ist absurd, Anträgen nicht zuzustimmen, die den eigenen politischen Positionen entsprechen – nur, weil sie aus der AfD kommen.

Massive Zurückweisungen, Grenzkontrollen, härtere Waffengesetze: Was macht die aufgeheizte Debatte über Zuwanderungspolitik, die wir gerade führen, mit Ihnen?

Kazim: Ich stamme selbst aus einer Migranten-Familie und weiß, wie es ist, diskriminiert zu werden. Gerade deswegen sage ich: Wir brauchen eine vernünftige, transparente Einwanderungspolitik mit klaren Kriterien. Denn die haben wir aktuell nicht.

„Wir brauchen Kriterien für die Aufnahme von Migranten“

Wie sähe so eine Einwanderungspolitik denn aus?

Kazim: Erstmal müssen wir uns eingestehen, dass wir ein Einwanderungsland sind. Dann müssen wir unterscheiden zwischen Einwanderung und Flucht – das sind zwei verschiedene Dinge.

Dass wir 2015 ein weltoffenes Land sein wollten, fand ich gut. Aber natürlich brauchen wir Kriterien für die Aufnahme von Migranten, zum Beispiel nach Qualifikationen und Berufen oder nach der Bereitschaft, bestimmte Ausbildungen zu absolvieren.

Das sehen wahrscheinlich einige Beobachter kritisch.

Kazim: Auch wenn das einem den Vorwurf einbringt, Menschen nach Nützlichkeit einzuteilen, geht es doch darum zu schauen, wer welchen Beitrag zu unserer Gesellschaft leisten kann. Das macht jedes erfolgreiche Einwanderungsland so. Auch für Flüchtlinge brauchen wir im Jahr 2024 andere Kriterien als zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg. Und natürlich müssen sich alle an unsere Regeln halten.

Kommen wir zurück zu Ihrer Fahrradreise durch Deutschland. Sie wollten herausfinden, was die Menschen verbindet. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Kazim: Das sind die Dinge, die ich am Anfang gesagt habe: Sprache, Kultur, Geschichte, Religion, Küche. Und ich glaube, dass wir einen gewissen Wertekanon teilen. Bei allen Gräben und Meinungsverschiedenheiten hilft die Kraft der Worte. Das funktioniert im persönlichen Gespräch von Angesicht zu Angesicht besser als online, in den sogenannten sozialen Medien.

Gab es einen Schlüsselmoment auf der Tour?

Kazim: Was mich sehr bewegt hat, war, wie viele engagierte Menschen es in Deutschland gibt – vor allem im Osten. Und das, obwohl sie teilweise einen hohen Preis dafür zahlen. Unsere Lage ist besser, als es den Eindruck macht, wenn man ständig nur vom deutschen Niedergang, Hass und Gewalt liest.

Was würden Sie der Politik denn empfehlen? Gerade auch mit Blick auf die Bundestagswahl 2025.

Kazim: Sehr viel mehr auf das zu achten, was die ländliche, die kleinstädtische Bevölkerung sagt. Die Abgeordneten müssten verstärkt die Sichtweisen aus ihren Wahlkreisen einbringen.

Außerdem sollte die Regierung aufhören zu denken, die schlechte Stimmung im Land wäre einzig das Resultat miserabler Kommunikation. Ja, unsere Regierung kommuniziert oft schlecht. Aber sie muss sich vielleicht auch mal fragen, ob ihre Politik möglicherweise nicht das ist, was viele Deutsche wollen.

sca/

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