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Wimbledon: Game, Set, Glitch | DIE ZEIT | ABC-Z

Anastasia Pavlyuchenkova wirkte verzweifelt. Konnte sie jetzt schon ihren eigenen Augen nicht mehr trauen? 

Beim Stand von 4:4 und Vorteil hatte die als neutrale Athletin startende Tennisspielerin gegen die britische Überraschungs-Achtelfinalistin Sonay Kartal am Sonntag eigentlich den Punkt gewonnen und war mit 5:4 in Führung gegangen. Kartal hatte eine Rückhand rund zehn Zentimeter hinter die weiße Grundlinie geschlagen, wie das Publikum in London und TV-Zuschauer mit bloßem Auge spätestens bei der ersten Wiederholung an den Endgeräten erkennen konnten. Pavlyuchenkova selbst hatte es bemerkt und aufgehört zu spielen. Die Mimik ihrer Kontrahentin legte nahe, dass sie ebenfalls wusste, was passiert war. Der deutsche Stuhlschiedsrichter Nico Helwerth unterbrach den Ballwechsel. 

Doch der obligatorische Ausruf des sogenannten Live Electronic Line Calling (ELC) blieb aus. Wenige Sekunden später ertönte stattdessen ein verwirrendes “Stop, stop” aus den Lautsprechern. Es folgten fragende Blicke im weiten Rund: Was war passiert?

Es passierte das, was immer mal wieder passiert, wenn Technik im Spiel ist. Sie funktionierte nicht. In Wimbledon befeuert das nun die Debatte erneut, wie viel künstliche Intelligenz (KI) dieses traditionsreiche Turnier verträgt – und wie viel zu viel ist.

In der diesjährigen 148. Auflage verzichten die Organisatoren erstmals auf ihre Linienrichter. Rund 300 Unparteiische wurden vom heiligen Rasen verbannt und durch künstliche Intelligenz ersetzt. Das hat medial für große Beachtung gesorgt. Längst nicht jedem gefällt, dass nun die KI allein entscheidet, ob ein Ball im Feld oder im Aus ist. Auf der ATP- und WTA-Tour ist das längst Alltag, und nach den ersten sechs Tagen schienen die Diskussionen in Wimbledon ebenfalls abgeebbt. Bis zum Sonntag. 

Nach einer längeren Pause, in der Helwerth sich mit Turnieroffiziellen austauschte, musste der Stuhlschiedsrichter den Spielerinnen und Fans mitteilen, dass die Technik während des Punktes nicht funktioniert hatte und der Ballwechsel deshalb wiederholt werden müsse. Da hatten die TV-Bilder aber längst entlarvt, dass der Ball deutlich im Aus gewesen war und Pavlyuchenkova 5:4 führen müsste. Das Problem: TV-Bilder dürfen nicht zur nachträglichen Betrachtung hinzugezogen werden. 

Sonay Kartal jedenfalls gewann den wiederholten Ballwechsel und das Spiel. Pavlyuchenkova benötigte einige Minuten, um sich zu erholen, sagte beim Seitenwechsel zum Schiedsrichter: “Du hast mir das Spiel weggenommen.” Danach wandelte sie ihre Wut um, rettete sich in den Tiebreak und zog letztlich knapp mit 7:6 und 6:4 in das Viertelfinale ein. 

Die Aufregung aber war so groß, dass sich das Turnier gezwungen sah, Medienanfragen mit einem Statement zu beantworten. Es sei klar, dass das eigentlich optimal funktionierende ELC-System auf einem Teil der Aufschlagseite während dieses einen Spiels von den Betreibern des Systems irrtümlich deaktiviert wurde. Also doch ein menschlicher Fehler? “In dieser Zeit gab es drei Calls, die vom ELC auf dem betroffenen Teil des Spielfelds nicht erfasst wurden. Zwei dieser Ausrufe wurden vom Schiedsrichter getätigt.” Der sei aber nicht darauf hingewiesen worden, dass das System deaktiviert worden war. “Der Stuhlschiedsrichter folgte dem festgelegten Verfahren.” 

Pavlyuchenkova erneuerte in der Pressekonferenz ihre Kritik: “Ich habe eine andere Entscheidung erwartet. Ich dachte nur, dass auch der Stuhlschiedsrichter die Initiative ergreifen könnte. Er hat es auch gesehen, das hat er mir nach dem Spiel gesagt. Ich dachte, er würde das tun, aber er tat es nicht.” 

Das ELC der Firmen Hawk-Eye und dessen Hauptkonkurrent FoxTenn werden auf der ATP- und WTA-Tour seit Jahren erfolgreich genutzt. Dabei führt, vereinfacht gesagt, eine Kombination aus Kameras, Sensoren und Software dazu, dass die Flugbahn und der Abdruck eines Balls millimetergenau verfolgt werden. Der Court wird von der Technik vorher genau abgemessen. Wegen des Windes war das auf Sand länger problematisch. Doch die Probleme wurden behoben. 2025 wurde auch bei Sandplatzturnieren auf der Tour ohne Linienrichter agiert. Aber die Verantwortlichen der French Open setzten dennoch auf Linienrichter, die Spieler mussten sich wieder umgewöhnen. Einige kritisierten die Uneinheitlichkeit. 

Neben der technischen Komponente geht es bei der Diskussion in Wimbledon auch um das Flair und inwieweit Menschen, also die Linienrichter selbst, ihren Teil zum prestigeträchtigsten Tennisturnier der Welt beitragen. Dass das System weniger Fehler macht als das menschliche Auge, bestreitet keiner aus dem einst rund 300 Menschen umfassenden Linienrichterpool, der 2025 auf 80 reduziert wurde. Zwei pro Platz assistieren dem Stuhlschiedsrichter weiter organisatorisch. Sie begleiten die Spieler etwa in die Toilettenpausen.

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