Wieso Erdogan ein kariertes Sakko trägt | ABC-Z

Recep Tayyip Erdogan hat ein Faible für ein Kleidungsstück: sein kariertes Sakko. Gedecktes Blau, weiter Schnitt, großes Karomuster. Seit mehr als einem Jahrzehnt trägt er die Jacke zu besonderen Anlässen. In seinem Schrank hängen zahlreiche Varianten von ihr. Die Jacke hat längst Kultstatus erreicht. In Memes wird sie parodiert, Talkshows machen sie zum Thema. Sogar ein eigener Twitter-Account war ihr gewidmet, bis die Plattform ihn sperrte. Ein Kellner im Istanbuler Stadtteil Beyoglu sagt: „Ich hasse ihn in dieser Jacke. Und wofür sie steht. Allein das zu sagen, könnte mich ins Gefängnis bringen.“ Ein Schneider sagt: „Keiner mag diese Jacke. Manche tragen kein Karo mehr, weil es für Erdogan steht.“
Es wird immer schwieriger, in der Türkei offen über Erdogans Politik zu sprechen. Regierungskritische Medien werden geschlossen, soziale Plattformen zensiert oder gesperrt, unliebsame Meinungen unterdrückt. Kritik am türkischen Präsidenten wird längst nicht mehr als politische Haltung verstanden, sondern als Angriff auf die nationale Identität. Doch über die sogenannte Siegerjacke zu reden, das scheint in der Türkei fast so etwas wie ein Ventil zu sein. Ob in Ankara, Istanbul oder der anatolischen Provinz: Jeder hat eine Meinung zu Erdogans kariertem Sakko.
Maßgeschneidert für den Präsidenten
Warum entzündet sich an diesem Kleidungsstück so viel Wut? Zehn Autominuten vom Palast in Ankara entfernt betreibt Mustafa Batak sein Hemdengeschäft. Mehr als 100 Hemden habe er schon für Erdogan genäht, sagt der Schneider. Er kennt seine Vorliebe für Karos. Für seinen Präsidenten verwendet er nur die wertigsten Karostoffe, 100 Prozent Baumwolle, bügelfrei. Fehler darf sich Batak nicht erlauben, das haben ihm Erdogans Leibwächter beim ersten Treffen klar gemacht. „Die Anproben mit dem Präsidenten folgen einem festen Ablauf“, sagt Batak. Er bekommt eine Whatsapp-Nachricht aus dem Sekretariat des Palasts, der Präsident wünsche neue Hemden, fünf blaue, fünf weiße und ein paar Karohemden. Erdogan lasse sich immer in seinem Büro ausmessen, während der Arbeit. Beim letzten Mal seien Nachrichten auf einem Bildschirm gelaufen, CNN Türk, erinnert sich Batak. Und über dem Schreibtisch hingen ein Porträt von Atatürk und ein silbernes Schwert, eine Erinnerung an die militärische Stärke des Osmanischen Reichs.
Der Präsident telefonierte, winkte Batak zu sich, ein kurzer Händedruck, und schon stand Erdogan mit durchgedrücktem Rücken vor seinem Schneider. Batak zückte Maßband und Notizbuch, er hatte wie immer genau zwei Minuten Zeit. „Dann habe ich ihn vermessen“, sagt Batak, wirft sich ein Maßband um, winkt seinen Assistenten zu sich, zupft dessen Hemd zurecht. Er will zeigen, wie ein Schneider vermisst. „Kragenweite, Schultern, rechter Arm, linker Arm, Bizeps, Brust, Bauch, Hintern. Zum Schluss die Handgelenke. Fertig.“ Mustafa Batak zeigt die Innenseite seiner rechten Manschette, an dieser Stelle stickt er später die Initialen des Präsidenten: R.T.E., Recep Tayyip Erdogan.

Erdogan sei im Unterhemd vor ihm gestanden und habe telefoniert, erzählt er. Selbstverständlich sei er freundlich gewesen, sagt er, welche Frage, und schnalzt mit der Zunge. Die Hemdenstoffe in Blau und Weiß solle Batak bestimmen, habe Erdogan gesagt. Aber über die Karomuster entscheidet der Präsident selbst. Er wolle sie am Abend mit seiner Frau Emine besprechen, habe er Batak gesagt. Nach einer Woche seien die Präsidenten-Hemden fertig gewesen, sagt der Schneider, Größe XXL, Regular Fit. Die von den Erdogans persönlich ausgewählten Karomuster muss Batak danach aus dem Sortiment nehmen, darauf besteht der Präsident.
„Hellblau, kariert, eine Nummer zu groß“
In einem anderen Teil Ankaras, weiter im Zentrum, steht Ruhi Demir: Piercings, langer Bart, rote Socken. Er war politischer Berater im Parlament. Vor einigen Tagen habe er seine Stelle verloren, sagt er. Vielleicht weil man ihm ansehe, dass er links wähle. In der Türkei sage das Aussehen viel über die politische Haltung aus. „Die Frau dort, wie sie ihr Kopftuch eng um den Hals bindet, sie wählt rechter als AKP, wahrscheinlich die ultranationalistische MHP”, sagt Demir. Eine Frau mit lila Haarsträhnen und Jacke im Zebramuster steigt in einen Bus. „CHP, ganz sicher.“ Die Regierung möchte, dass Frauen sich konservativ kleiden, besonders ältere. Wählerinnen der Opposition kleiden sich daher oft bewusst modern. Auch Bärte sprechen für sich. Sauber getrimmt: Erdogans AKP. Glattrasiert: die oppositionelle CHP. „Jeder beobachtet jeden“, sagt Demir. „Heute ist es in der Türkei so: Symbole sprechen anstelle von uns.“
Das gilt auch für das karierte Jackett. „Am Abend nach jeder Wahl, wenn Erdogan den Balkon in dieser Jacke betritt, braucht es keine Worte. Alle wissen: Er hat wieder gewonnen“, sagt Demir. Das erste Mal lief es 2014 so. Erdogan wollte Abdullah Gül als Staatspräsident ablösen. Als Erdogan an die Wahlurne trat, trug er eine der Jacken: hellblau, kariert, eine Nummer zu groß. Das markante Muster hing unförmig an seiner großen Statur. Es war eine historische Wahl, die erste, bei der das Volk sein Staatsoberhaupt direkt wählte. Am Abend winkte Erdogan als Sieger von einem Balkon in Ankara. Wieder trug er seine Jacke, diesmal: große Karos in Königsblau. Es war nicht ihr erster Auftritt auf der politischen Bühne. Aber an diesem Tag bekam sie einen Namen, den sie bis heute trägt: Erdogans Siegerjacke. „Erdogan hat die karierte Mode in die Türkei gebracht“, sagt Levon Kordonciyan, der Urenkel von Atatürks Schneider. „Niemand beeinflusst ihn. Er folgt nicht der Welt, sondern kreiert seine eigene Mode.“
Istanbuls Mode und die Spaltung des Landes
Um der Geschichte des karierten Jacketts und seinem Träger näherzukommen, reisen wir in Erdogans Heimat: nach Istanbul. Seine Familie zog vor seiner Geburt von Rize, einer konservativen Provinz an der Schwarzmeerküste, in die Metropole. Erdogan wuchs in Kasimpasa auf, einem rauen Arbeiterviertel. Er besuchte eine religiöse Schule, die von der säkularen Gesellschaft stigmatisiert wurde. Heute ist Erdogan ein Vorbild für Menschen, die vom Land in die Stadt gekommen sind. Er habe „einfachen Türken“ Wohlstand und Selbstbewusstsein gebracht, heißt es. Von diesem Kredit lebt er bis heute. „Seine Anhänger verhalten sich, als sei er eine Art Prophet“, sagt eine Frau, die nur mit ihrem Vornamen genannt werden möchte, Oiku. „Das macht ihn blind für die Probleme der Menschen.“
Oiku läuft durch den Istanbuler Stadtteil Beyoglu. Langer schwarzer Ledermantel, dunkle Sonnenbrille, 28 Jahre alt. Sie hat in Paris Kommunikation studiert, auf Instagram folgen ihr fast 30.000 Personen. Sie postet nicht nur über Stil, auch politische Themen spricht sie an. Soweit es möglich ist. Wer Witze über Erdogan mache, werde gefunden, sagt sie. „Es kann passieren, dass Polizisten in der Nacht zu dir kommen. Nur um zu zeigen: Schau, was wir können.“ Doch sie kennt die roten Linien, die sie nicht übertreten darf, die Codes, mit denen sie Dinge benennt, ohne sie auszusprechen. Es gibt diese türkische Phrase, die sie und andere Influencer nutzen, um Erdogans Namen nicht zu nennen: „maluu sahis“, die Person, die wir alle kennen.

Wir gehen mit ihr über Istanbuls größten Einkaufsboulevard, die Istiklal Caddesi, vorbei an Cafés und Restaurants, an Maronenverkäufern und Sesamringständen. Alle paar Meter ein Polizeiauto. Oiku führt uns in ein Geschäft, in dem Erdogans Anhänger den Siegerjacken-Look kaufen.
Der Ladenbesitzer Metin, der ebenfalls lieber nur mit dem Vornamen erwähnt werden möchte, betreibt eine Boutique, in der die Karosakkos bis unter die Decke reichen. „Ich habe die Siegerjacken in allen Varianten“, sagt er und greift mit einer langen Stange nach einem dunkelblauen karierten Modell, balanciert es auf dem Kleiderbügel herunter. „So eine habe ich heute schon verkauft.“ Seine Kunden seien Business-Leute, sagt er, Politiker, AKPler. Er profitiere davon, dass Erdogans Sakkos Thema seien: „Je mehr die Leute darüber reden, desto mehr Menschen kaufen sie.“
„Mit der Jacke will Erdogan Nähe schaffen“, sagt Oiku. „Aber er wird nie einer von uns sein. Er sitzt in seinem Palast, in dessen Schränken seine Frau Taschen von Hermès hortet. Er ist reich. Wir sind arm.“
Oiku ist unter Erdogan aufgewachsen. Seit sie zurückdenken kann, bestimmt er die Politik ihres Landes, ihr Leben. Als er 2003 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, war sie sieben Jahre alt. Als er seinen Palast in Ankara bauen ließ, sechsmal größer als das Weiße Haus, bei der Eröffnung 2014 der modernste Regierungssitz der Welt, konnte sie das aus dem Fenster ihres Elternhauses beobachten. Als er nach 2016 all jene in Regierungskreisen austauschte, die anderer Meinung waren, verlor Oikus Mutter ihre Arbeit. Gut 15 Jahre lang hatte sie einen Kindergarten geleitet, in den Minister ihre Kinder brachten. „Er wollte, dass das System ganz ihm gehört. Wer ihm nicht nahestand, wurde beiseitegeschoben. Er hat unser aller Leben radikal verändert.“ Am Anfang habe Erdogan fast liberal gewirkt. Nicht nur seine Politik, auch sein Auftreten. Heute sei da diese Wut in seinem Gesicht, mit jedem Jahr habe sie sich tiefer in seine Züge gegraben, sie lasse ihn furchteinflößend wirken. „Hassrede ist seine liebste Beschäftigung“, sagt Oiku. „Spalten seine Kunst.“

Istanbuls Mode und die Spaltung des Landes
Um zu begreifen, wann das karierte Jackett zum Hassobjekt wurde, muss man etwa zwölf Jahre zurückgehen. Frühsommer 2013, in einem der wenigen grünen Orte mitten in Istanbul: Gezi-Park. Die Bäume sollten einem Einkaufszentrum weichen, Umweltaktivisten versammelten sich zu einem friedlichen Protest. Sie lasen Gedichte, tanzten, sangen. Der Protest sprach sich herum, die Menge wuchs, und bald ging es um mehr als einen Park. Es ging um die Rechte von Arbeitern, den Krieg in Syrien, um Küsse auf offener Straße. Es wurde ein Protest gegen Erdogan und seine Regierung.
Die reagierte mit Härte. Mit Tränengas und Wasserwerfern, mit Gummigeschossen und Schlagstöcken. Tausende wurden verletzt und festgenommen. Im Juni 2013, die Proteste dauerten seit Wochen an, brachte das türkische Satiremagazin „Penguen“ eine Ausgabe zum Gezi-Aufstand. Auf dem Titelblatt die Worte, die Erdogan an die Demonstranten richtete: „Beendet die Proteste, oder wir sprechen in einer Sprache mit euch, die ihr versteht.“ Die Karikatur zeigt ihn mit zwei bewaffneten Polizisten vor den Barrikaden – alle drei in karierten Siegerjacken. Elf Personen wurden bei den Gezi-Protesten erschossen, das jüngste Opfer war 15 Jahre alt. „Damals haben sich viele Menschen politisiert“, sagt Oiku. „Sie begannen, seine Politik zu durchschauen.“
Das karierte Jackett war zum Symbol für brutale Polizeigewalt und staatlichen Autoritarismus geworden. Zu einer Machtdemonstration Erdogans. Ruhi Demir, ehemals politischer Berater, sagt über das Siegerjackett: „Die Seele des Staates ist jetzt kariert.“ Gezi war ein erster innenpolitischer Wendepunkt. Mit dem Putschversuch 2016 drehte sich das Blatt endgültig. Zu dieser Zeit hatte Erdogan alle Macht auf sich konzentriert, wichtige Institutionen waren ihm unterstellt, die Gerichte, Medien, Armee und Polizei. Mit jeder gewonnenen Wahl, jeder Balkonrede im karierten Jackett hat sich Erdogan mehr vom EU-freundlichen muslimischen Demokraten zum autokratischen Machthaber gewandelt.
In der Türkei hat es Tradition, politische Botschaften über die Kleidung zu transportieren. Mustafa Kemal Atatürk, Gründer der Republik Türkei und der Republikanischen Volkspartei CHP, zeigte es deutlich. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs wollte er eine moderne, säkulare Türkei schaffen, die sich an europäischen Werten orientiert. Er führte eine Kleiderreform ein, verbot den traditionellen Fes, den kleinen roten Filzhut der Osmanen. Stattdessen sollten die Männer schwarze Hüte im europäischen Stil tragen. Seine politischen Reformen zeigten sich auch in Atatürks Stil: Maßanzüge, Smoking, Frack. Sie wurden zu seinem Markenzeichen, standen für Fortschritt und westliche Werte. Erdogan inszeniere sich nun als Anti-Atatürk, sagen Türkei-Kenner. Er sei der Gegenentwurf zur elitenorientierten Politik Atatürks. Seine Erfolgsgeschichte begann in einem Istanbuler Armenviertel, sie führte ihn vom jungen Sesamringverkäufer bis ins höchste politische Amt. Mit diesem Aufstieg können sich seine Anhänger identifizieren. Jene, die sich von der Elite übergangen fühlen. Sein Slogan „Ich bin einer von euch“ prägte seine ersten Wahlkämpfe.
Muster haben Tradition
Das will er bis heute verkörpern. Wenn er seine Wähler trifft, trägt er bewusst karierte Sakkos. Er wirkt darin volksnah. Sie sind Teil seiner politischen Inszenierung, ein Erkennungszeichen, das auch auf Fotos präsent sein soll. So wie Atatürk einst mit seinem Stil kommunizierte. Erdogan verkörpert traditionelle, tiefreligiöse Werte. Er verzichtet sogar auf die Krawatte, wenn er sich im Karojackett zeigt. Seine Anhänger machen es auch so. Nach dem Referendum 2017 entstand ein Gruppenbild von Erdogan und AKP-Anhängern, alle in Karojacken. Der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, postete das Bild auf Twitter und spottete: „Ein Staat. Eine Nation. Eine Jacke.“ Eine Anspielung auf Erdogans Wahlkampfslogan.
Als könnten Erdogans Karos das ganze Land vereinen. Sein Sieg bei dem Referendum bedeutete einen Systemwechsel, wie es ihn seit dem Zerfall des Osmanischen Reichs nicht mehr gegeben hatte. Mit dem Referendum änderte er die Verfassung und rief die neue Türkei aus. Ein Referendum, das nach Ansicht vieler Beobachter seine Herrschaft in eine Diktatur umwandelte.
Aber es bewegt sich etwas. Im Juni 2024 trat Özgür Özel, Vorsitzender der CHP, vor die Presse. Die CHP hatte bei den Kommunalwahlen im März 2024 einen historischen Sieg errungen. Sie wurde landesweit stärkste Kraft und regiert mittlerweile in fast der Hälfte der Groß- und Provinzhauptstädte. Zum ersten Mal trug ein Politiker der Opposition ein Karosakko im Stil Erdogans. Ob er damit ein Zeichen setzen wolle, wurde Özel gefragt. Er antwortete: „Wir sind jetzt die Gewinner.“ Sein Auftritt in dieser Jacke löste Schockwellen aus. Wie könne Özel eine Jacke tragen, die für alles außer Anstand und Ehrlichkeit stehe, warfen ihm die CHP-Wähler vor.
In Beyoglu ist es mittlerweile Nacht. Oiku steht vor einer Bar, durch das Viertel hallen Stimmen und Bässe, auf der Straße tanzen Menschen. Fassaden im Jugendstil versperren den Blick auf den nachtschwarzen Bosporus. Es ist ihr letzter Abend in Istanbul, ein letztes Mal Freunde sehen, morgen wird sie den Zug nach Ankara nehmen und ihre Koffer packen. Acht Monate hat sie gewartet, oft nicht geglaubt, dass es klappen würde. Dann hielt sie ihr Visum für Deutschland in der Hand. Eine Wohnung hat sie schon, Berlin, Prenzlauer Berg. Sie will Deutsch lernen, eine Arbeit finden. Aber vor allem will sie nicht mehr jedes Wort abwägen, das sie postet. „Es tut weh, zu gehen“, sagt sie. Sie will nicht für immer bleiben. „Aber in der Türkei werden unsere Freunde wegen der Politik umgebracht. Als Frau, als progressive oder queere Person zählt ein Leben nichts. Mein Land will mich nicht.“ Auch in Berlin wird sie weiter auf Türkisch posten. Sie hofft, dass sich etwas ändert, sie will dazu beitragen. Bis dahin wartet sie. Auf Wahlen ohne das karierte Sakko auf dem Balkon. Zumindest nicht getragen von „maluu sahis“, der Person, die wir alle kennen.