Wie Venedig versucht, das reiche Erbe der Stadt zu bewahren | ABC-Z

Noch liegt dieser Lagunenschatz halb im Verborgenen. Hinter der langgestreckten Fassade des Casino Mocenigo auf Murano warten glanzvolle Fresken von Schülern Paolo Veroneses darauf, betrachtet zu werden. Besucher haben hier keinen Zutritt. Das Casino ist Teil einer Großbaustelle. Künftig soll es als Eingangsbereich des Hotels The Langham Venice dienen, das von Architekt Matteo Thun auf dem Gelände einer ehemaligen Glasfabrik errichtet wird.
„Casino“ heißt „kleines Haus“. Schon bevor in Venedig das erste offizielle Spielkasino der Welt im Jahr 1638 eröffnet wurde, gab es in der Serenissima zahlreiche solche kleineren „Casini“ als Orte der Belustigung, der Kultur und des Müßiggangs. Wohl auch wegen seiner Lage draußen in der nördlichen Lagune geriet das Casino Mocenigo in Vergessenheit. Für Matteo Thun, der Veronese verehrt, ist es jedoch das Herzstück des Orts, der bis zum Frühjahr 2027 entstehen soll und vielleicht der Lagune zusammen mit anderen Projekten neue Kraft verleihen wird. Das hat die von Touristenmassen auf den Murano-Inseln und Burano, von großen Kreuzfahrtschiffen und Umweltverschmutzung geplagte riesige Wasserlandschaft dringend nötig. Denn eigentlich zählt sie zum Schönsten, was Venedig zu bieten hat.
Aus Alt mach Neu: Das Hotel The Langham Venice soll 2027 eröffnet werden.
„Das natürliche Kapital der Lagune könnte Venedig regenerieren“, sagt die Umweltaktivistin Jane da Mosto von der Organisation We Are Here Venice. Einer der Grundpfeiler ihrer Arbeit heißt daher „Venedig ist die Lagune“. Dahinter steht die Überzeugung, dass das Gleichgewicht des Ökosystems Lagune Venedig am Leben hält. Doch das sehen laut da Mosto die Politiker nicht. Nach ihrer Meinung mangelt es an Wertschätzung, sinnvollen Projekten und langfristiger Planung.
Von Veronese-Schülern: Die Fresken im Casino Mocenigo aus dem 16. Jahrhundert werden restauriert, in das Hotelprojekt The Langham einbezogen und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Wer bei gutem Wetter oder leichtem Nebel mit dem Vaporetto zu den nördlichen Inseln aufbricht, kann solche Ignoranz kaum fassen. Gar nicht weit vom Festland tut sich eine funkelnde Welt auf. Die Farben des glitzernden Wassers und des weiten Himmels oszillieren zwischen Blau, Grün und Grau. Seevögel landen mit rasanten Spritzern, Fischerboote gleiten vorbei, Möwen schreien laut. Die sumpfigen Grasflächen im Wasser wurden zwar durch Menschenhand scharf abgegrenzt, doch in Wahrheit gehen Land und Meer ineinander über.
Venedig ist wohl hier geboren worden, zumindest der Stadthistorie nach. Die Bewohner einiger Städte und Dörfer Norditaliens suchten in der sumpfigen Landschaft Schutz vor brandschatzenden Invasoren im fünften und sechsten Jahrhundert. Weil das aus Wasser, Sand und Sedimenten geformte Lagunenbecken schwer schiffbar ist, war es ein perfektes Versteck. Die Bewohner bewegten sich, auf Booten ohne Kiel stehend, geschickt durch das flache Wasser, wie Vorfahren der heutigen Gondolieri. Ihre Bleiben errichteten sie auf Pfählen. „Gleich Wasservögeln habt ihr eure Wohnungen erbaut, wie verstreute Zykladen, auf der Oberfläche der See“, schrieb der römische Gelehrte Cassiodor im Jahr 523. Als die Bevölkerung der antiken Stadt Altino nach der Eroberung durch die Langobarden in die nördliche Lagune nach Torcello floh, wurde der Bischofssitz auf die Insel verlegt. 639 begann man mit dem Bau der Kathedrale Santa Maria Assunta, der ältesten Kirche der Serenissima.
Anders als auf der Nachbarinsel Burano, die durch ihre in leuchtenden Farben gestrichenen Häuser zahlreiche Touristen anzieht, ist es auf Torcello recht ruhig. Eine grüne Oase mit Bäumen und Blumenwiesen. In der Kirche, die im Laufe der Jahrhunderte erweitert wurde, sind wunderschöne Mosaike aus dem elften und zwölften Jahrhundert zu entdecken. Die Hauptapsis mit einer tiefblau gekleideten Madonna Hodegetria auf goldenem Grund erinnert an die Himmelfahrtskuppel des Markusdoms. Sie zeugt von der einstigen Bedeutung der Kathedrale, die sie später vollkommen an San Marco abtrat. In den Dreißigerjahren erlebte Torcello eine Wiederauferstehung. Giuseppe Cipriani, Gründer der legendären „Harry’s Bar“, eröffnete auf der Insel ein kleines Inn mit Gästezimmern. In den folgenden Jahrzehnten besuchten zahlreiche Prominente die Locanda.
Ernest Hemingway zog sich hierher zurück, um auf Entenjagd zu gehen und den Roman „Über den Fluss und die Wälder“ zu schreiben. Die britische Königin Elisabeth II. kehrte hier ein, ebenso Prinzessin Diana, Winston Churchill, Charlie Chaplin, Audrey Hepburn, François Mitterrand und viele andere. Das Lokal befindet sich noch immer in Familienhand; zur Zeit ist es wegen Renovierung geschlossen. Vielleicht knüpft es danach an seine besten Zeiten an. Zahlungskräftige Besucher kann die Lagune gebrauchen – anders als Tagestouristen, die sich ihr eigenes Essen mitbringen oder auf Kreuzfahrtschiffen speisen. Sie braucht vielmehr Menschen, die dort übernachten, zu Mittag oder zu Abend essen und vielleicht Glasobjekte aus Murano kaufen oder auf Burano die Spitzenstoffe, die der Insel früher zu Wohlstand verhalfen.
„Die Struktur der Glasfabrik musste unbedingt bewahrt werden.“MATTEO THUN, Architekt
„Ich glaube, dass The Langham Venice gut für die Lagune ist und sie beleben wird“, sagt Matteo Thun über sein Hotelprojekt auf Murano. Auf den nördlichen Inseln gibt es bisher kein Luxushotel. Anders als am Lido oder im Süden, wo Thun schon auf der Isola delle Rose das JW Marriott Venice gestaltet hat. Hier wie dort geht es darum, Neues aus Altem zu erschaffen, ohne es zu verdrängen. Beim Marriott gestalteten der italienische Architekt und sein Team ein früheres Sanatorium samt seinen Lagerhäusern in ein helles, großzügiges Resort mit Spa um. Für The Langham ist eine Mischung aus restaurierten Gebäuden und daran angepassten Neubauten vorgesehen. Kaum jemand scheint für dieses Vorhaben besser geeignet als der Südtiroler. Thun ist für einen sensiblen Umgang mit Bestehendem und eine reduzierte, aber menschliche Art des Bauens bekannt. Er ist Murano seit den Achtzigern verbunden. Damals entwarf er Objekte für die traditionsreiche Glasbläserei Barovier & Toso, später auch für Venini.
Das Cipriani ist mit seiner ur-venezianischen Atmosphäre – etwa den hell durcheinander wehenden Rufen der Kellnerinnen im Frühstücksraum und den herrlichen Witzen der Barkeeper – eine gewachsene Institution. Ein neues Hotel wird sich anders anfühlen, zumal die chinesischen Investoren der Langham Hospitality Group internationale Standards haben. Doch Matteo Thun arbeitet möglichst regional und mit recycelten Materialien. „Bei Gebäudeschutz und Nachhaltigkeit hilft uns auch das Denkmalschutzamt“, sagt er. Dass der Architekt Venedig liebt, hört man aus jedem Satz heraus. Er kennt die Stärke des Nordwinds, der die Gebäude attackiert, und die Gefahren, die den Mauern bei Sturm von Salzablagerungen drohen. Im Langham wurden die neuen Gebäude deshalb einen Meter höher gesetzt. Das Denkmalschutzamt stimmte zu.
Vom Vater haben sie gelernt, wie wichtig es ist, die komplexen Prozesse der Herstellung zu verstehen, mit den Maestri del Vetro an den Öfen in der Glasbläserei zusammenzuarbeiten.
„Es eröffnet sich eine eigene Welt, wenn man die Menschen sieht, die mit dem Feuer arbeiten.“
ELENA MICHELUZZI, Unternehmerin
„Die Welt auf den Inseln ist geteilt“, sagt Elena Micheluzzi. Es gebe die Welt der Touristen, die günstige Produkte kauften, die oft gar nicht in der Lagune hergestellt würden. Daneben existiere das Glas besserer Qualität für das breitere Publikum. Und dann gebe es die Welt der spezialisierten „Furnaci“, der Glasbläsereien der Künstler und bekannten Designer. „Deren Erzeugnisse sind aber oft nicht in Venedig sichtbar“, sagt sie. „Stattdessen werden sie weltweit in Galerien und auf Ausstellungen präsentiert.“ Die Micheluzzis, die ihr Geschäft im Stadtteil Dorsoduro haben, sind eine Ausnahme. Auch das Glas scheidet also den Tourismus – in Souvenirjäger, solide Käufer und Kenner, die Kunstobjekte suchen. So bitter es klingt: Nur die Kenner helfen den Laguneninseln und erhalten Handwerkstraditionen sowie Arbeitsplätze.
Nur die Kenner helfen den Laguneninseln und erhalten Handwerkstraditionen sowie Arbeitsplätze.
„Es gibt einen kannibalistischen Tourismus“, sagt Jane da Mosto. 2015 gründete sie We Are Here Venice, mit der „Mission, dass Venedig eine lebende Stadt bleibt“. Die Lagune macht ihr seit Langem Sorgen. Man brauche wirtschaftlich lukrative neue Projekte, die der Lagune helfen. „Die auch dazu beitragen, dass sich Insekten und Vögel vermehren.“ Die Salzmarschen erodierten, das Wasser werde tiefer, und die Widerstandsfähigkeit gegen die Gezeitenströmungen nehme ab. M.O.S.E., das milliardenschwere Sperrwerk in der Lagune, verhindere Überschwemmungen, doch das Problem sei damit nicht gelöst. „M.O.S.E. ist ein Schmerzstiller, aber kein Heilmittel.“
Das Konzept des „Venissa“ kommt Jane da Mostos Vision von Projekten nahe, die der Lagune helfen. Der Garten ist als öffentlicher Raum angelegt. Nur ein Teil kommt „Venissa“ zugute. Der Rest wird von sechs älteren Leuten aus Burano in Eigenregie bewirtschaftet. „Die Familie Bisol, die Eigentümer des ‚Venissa‘, wollten einen öffentlichen Garten schaffen, einen Ort für viele“, sagt Chiara Pavan. Venedig brauche einen Tourismus, der den Einwohnern Platz lasse. „Ich bin 2017 hierhergekommen und empfand diesen Ort als sehr inspirierend. Aber der Klimawandel ist im Inneren der Lagune besonders stark zu spüren.“ Neben dem gestiegenen Meeresspiegel ist die zunehmende Trockenheit ein großes Problem. „Dadurch tritt vermehrt Meerwasser in den Boden.“
Das Restaurant „Venissa“ an einem alten Kirchturm auf der Insel Mazzorbo hat einen öffentlich zugänglichen Garten.
Und mit dem Meersalz verändere sich dessen Qualität. „Im vorvergangenen Jahr etwa sind 20 Bäume abgestorben, und wir haben ein Drittel der Weinernte verloren – obwohl Wein eigentlich sehr robust ist.“ Dann gebe es noch das Thema der Granchio Blu, der Blaukrabben. Seit ein paar Jahren vermehren sie sich schnell und fressen die Muscheln auf. „Wegen der Überfischung haben sie kaum noch natürliche Feinde.“
Können Projekte wie das „Venissa“ da helfen? Nein, sagt die Köchin. „Wir können nur versuchen, unseren Gästen zu zeigen, wie man weniger schädlich isst.“ Die Menüs werden konzipiert mit lokalen Produkten. Schädliche Invasoren wie die blauen Krebse stehen dabei bewusst auf der Speisekarte. Statt nicht heimischer Zitronen werden Trauben aus der Vorernte des Weins als Säuerungsmittel benutzt. Überschüssige Kräuter werden zu einem aromatischen Pulver verarbeitet, mit dem gewürzt wird. Zudem kompostiert das „Venissa“ selbst.
Und doch fragt sich Chiara Pavan oft, ob es sinnvoll ist, selbst anzubauen. „Wir haben im vergangenen Jahr so viel Wasser verbraucht. Nicht weit von hier gibt es eine Initiative, die mit sehr sparsamer Wassertechnik anbaut. Vielleicht wäre es klüger, Produkte von diesen Fachleuten zu beziehen.“ Sie weiß, dass es für die Zukunft dieser Landschaft kollektive Lösungen braucht: „Denn die Lagune ist ein sehr fragiler Ort.“