Stil

Wie Strickmode aus Berlin die Welt eroberte | ABC-Z

Zur Begrüßung gibt es Blumen. Das passt, schließlich steht hier, in einer Galerie in Berlin-Mitte, am nächsten Tag eine große Jubiläumsfeier an. Die üppige Blüte begrüßt einen aber nicht etwa in einer Vase, nein, sie kommt an diesem Nachmittag im Herbst in Form eines Pullovers daher. Auf heller, dicker Schurwolle zieht sie sich in tiefem Dunkelblau vom Saum bis zum Kragen. An einem schlichten Bügel hängt der Pullover an der Wand, einige lose Fäden lassen seine lange Geschichte erahnen.

Gestrickt hat ihn Maike Dietrich, 2004, zwischen Aufträgen als Stylistin in Berlin. „Ein einfarbiger Pulli erschien mir langweilig, also habe ich die Blume groß auf Karopapier gemalt und dann den Pulli gestrickt“, erzählt sie ganz unprätentiös. Das Umfeld der heute 56-Jährigen war auf Anhieb begeistert von dem, was doch eigentlich nur als Zeitvertreib entstanden war; Freunde und Bekannte baten Dietrich, auch für sie zu stricken.

20 Jahre später hängt der Blumenpullover neben einem großen, gerahmten Foto. Es zeigt ein Modell in einer Neuauflage dieses allerersten Maiami-Designs. Maiami, so heißt die Marke, die aus Dietrichs Strick-Hobby entstand. Sie ist international gefragt, wird in über 180 Geschäften weltweit verkauft, von Hawaii bis Nebraska, von Washington bis Shanghai, von Los Angeles bis Tokio. In Deutschland führen unter anderem das KaDeWe in Berlin, Unger in Hamburg und Oberpollinger in München die Marke.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Auch wenn der Blumenpullover für die Jubiläumskollektion neu aufgelegt wurde, denken die meisten beim Stichwort Maiami nicht unbedingt an Motiv-Strickpullover aus schwerer Schurwolle. Bekannt ist die Marke vor allem für grobmaschige, leichte Cardigans aus Mohair und Kaschmir, mal unifarben, oft in überraschenden Farbkombinationen, mit großen Nadeln gestrickt. Wie luftige und doch wärmende Woll-Gespinste, unaufgeregt und auffällig zugleich. Man könnte sagen, dass Dietrich mit ihren Entwürfen den Grobstrick neu definiert hat.

Sie selbst formuliert es so: „Unsere Produkte sind auf eine eigene Weise schön.“ Diese eigene Schönheit speist sich nicht nur aus der typischen zart-groben Masche, sondern auch aus einer ganz eigenen Silhouette: Der „Bomber Cardigan“ greift die Form der Bomberjacke auf, nimmt ihr aber mit sanfter Struktur das Bullige, allzu Sportliche. Dazu gesellen sich Pullover, lange Strickmäntel, Kleider aus Mohair, Alpakawolle und Kaschmir.

„Dass es so wird, wie es heute ist, hätte ich mir am Anfang nicht vorstellen können“, sagt Dietrich am Tag vor dem großen Fest. Sie spricht leise und bedacht, nimmt sich Zeit für ihre Antworten, lässt sich nicht von den Aufbau-Arbeiten im Hintergrund ablenken. Eine Pop-Up-Ausstellung lässt 20 Jahre Maiami Revue passieren, mit Kampagnen-Fotos, frühen Skizzen und gestrickten Originalen. Auf der Gästeliste: Familie, Freunde, Wegbegleiter und Kundinnen (die meisten sind weiblich), Schauspielerinnen wie Fritzi Haberlandt und Antje Traue. Sie freue sich darauf, mit ihnen allen zu feiern, sagt Dietrich, auch wenn so ein Tag für in­trovertierte Menschen wie sie aufregend sei.

Stricken hat Maike Dietrich von der Oma gelernt

Zu Introvertiertheit scheint das Stricken zu passen. Es sorgt für fast meditative Ruhe, erfordert Konzentration und Konsequenz. Dietrich lernte es von der Großmutter und versank auch als Erwachsene immer wieder in der Arbeit mit Garnen und großen Nadeln. Und das, obwohl der Strickmode in den Nullerjahren ein latenter Achtziger-Jahre-Touch anhaftete und noch keine Profi-sportler wie Tom Daley telegen auf der Tribüne bei den Olympischen Spielen strickten. Dietrich war ihrer Zeit voraus und traf doch einen Nerv. Immer mehr „Bestellungen“ von Freunden gingen bei ihr ein.

„Damals dachte ich nur: Es macht Spaß, es fühlt sich nach Erfüllung an, da bleibe ich mal dran“, sagt die Design-Autodidaktin, die nie in aufgeplustertes Marketing-Sprech oder Phrasen verfällt – obwohl sie ihre Erfolgsgeschichte schon oft erzählt hat. Deutsche Modemarken von internationalem Rang sind eben noch immer eine Seltenheit. Wenn Dietrich von ihrem unverhofften Start als Designerin berichtet, klingt das nicht chaotisch, sondern intuitiv. „Jemand sagte mir: Du muss damit auf die Modemesse gehen!“, erinnert sie sich. Damals war die 2003 ins Leben gerufene Messe Premium Berlin eine große Sache in der Hauptstadt. Obwohl sie noch immer als Stylistin arbeitete und „nur“ davor, danach und dazwischen strickte, präsentierte Dietrich dort tatsächlich erfolgreich ihre Entwürfe. Die Aufträge wurden zahlreicher.

Durch die Blume: Der Strickpullover auf dem Foto an der Wand ist eine Neuauflage des allerersten Modells.
Durch die Blume: Der Strickpullover auf dem Foto an der Wand ist eine Neuauflage des allerersten Modells.Jens Gyarmaty

Nach drei Saisons ging sie von Motiv-Sweatern aus Schurwollgarnen über zu Mohair, entwarf leichtere Stücke. In dieser Zeit habe sie noch keinen richtigen Finanzierungsplan gehabt, der Wandel vom Hobby zum Unternehmen vollzog sich langsam. Von 2010 an aber war die Zeit des Hobbys dann vorbei. Dietrich stellte eine Assistenz ein, ließ sich von einem Unternehmenscoach begleiten, dachte über Zahlen, Kosten und Umsätze nach. Sie beauftragte Strickerinnen und zeigte ihre Designs auch auf den Messen in New York und Paris. Die Akzeptanz der Modebranche dort erschien ihr größer, entsprechende Netzwerke dichter als hierzulande. Dennoch blieb sie mit ihrem wachsenden Label in Berlin.

Hier entstehen heute die Designideen im Team, das Unternehmen hat acht Mitarbeiter vor Ort. Die Cardigans, Pullover und Kleider werden unter anderem in Manufakturen in Italien, Bulgarien und Peru hergestellt. Aus Wolle, die dem „Responsible Wool Standard“ (RWS) entspricht. Bevor sie in den über 180 Geschäften in aller Welt landen, erfolgt eine Qualitätskontrolle in Berlin: „Die Manufakturen schicken die Produkte an uns, wir prüfen sie, und dann erst gehen sie in die Geschäfte.“ Drei Kollektionen erscheinen pro Jahr, eine Hauptkollektion mit etwa 100 Entwürfen und zwei kleinere mit je rund 50 Entwürfen.

Material, Zeit, Handwerk, Qualitätskontrolle, Langlebigkeit – das kostet

So organisch das Label wuchs, so anpassungsfähig ist es heute. Schnelllebige Massen- und Überproduktion will es vermeiden. „Wir fertigen nach Anzahl der Bestellungen der Händler an“, sagt Dietrich. Zudem könne das Team gut einschätzen, welche Designs wo gut ankommen. Klassiker wie der Bomber-Cardigan überdauern sowieso die Saisons. All das kann man als Absage an die schnelllebige Fast-Fashion-Kultur begreifen. Die Preise des Cardigans starten bei rund 350 Euro für Stücke aus Alpakawolle, die Mohair-Variante gibt es ab rund 400 Euro, die aus Kaschmir ab rund 1200 Euro. Hohe Preise für Strickjacken, könnte man sagen. Aber in ihnen stecken Material, Zeit, Handwerk, Qualitätskontrolle, Langlebigkeit. Die Kundinnen scheinen sich nicht daran zu stören.

Sie tragen die Strickdesigns in Großstädten, aber auch auf dem Land. Und an der amerikanischen Westküste. In Kalifornien ist Maiami besonders gefragt. Vor Kurzem besuchte Dietrich Boutiquen, die ihre Mode führen, in Santa Barbara, Montecito, Malibu und Manhattan Beach. „Unsere Sachen passen zum dortigen Lifestyle, in dem Handgemachtes, bewusste Ernährung und ein Hang zum Boho-Stil große Rollen spielen.“ Zudem sei das Publikum weniger preissensibel: „Da wird ein Cardigan auch mal in vier Farben gekauft.“

In Kalifornien ist Maiami besonders gefragt: Die Strickjacken aus Berlin passen gut zum Westküsten-Lifestyle.
In Kalifornien ist Maiami besonders gefragt: Die Strickjacken aus Berlin passen gut zum Westküsten-Lifestyle.Jens Gyarmaty

Warum ist die große Masche ausgerechnet dort so beliebt, wo es meist warm ist? „Strickmode gilt dort nicht als Wintermode“, so Dietrich. Strick über dem Sommerkleid abends am Meer, das klingt einleuchtend. Dietrichs Begeisterung über ihre Reisen an diese Orte ist ihr anzumerken. Die Atmosphäre der amerikanischen Ost- und Westküste, das Sonnige, Leichte, Ungezwungene haben es ihr schon lange angetan. Deshalb steckt auch der Städtename Miami im Firmennamen.

Ob im Berliner Speckgürtel oder in Miami: Der Kontrast der weichen, durchlässigen, handverarbeiteten Wollfasern zu den glatten, harten, maschinengemachten Oberflächen einer digitalisierten Welt scheint eine Sehnsucht nach Echtem zu stillen – und wird oft kopiert. Rechtlich dagegen vorzugehen sei schwer, aber: „Die meisten erkennen das Original und wissen, dass wir die Vorreiter sind.“ Manchmal seien sogar bei den Produktbezeichnungen Anleihen zu finden, sagt Dietrich. Ihre Gelassenheit verdanke sie auch der Kreativität ihres Teams: „Wir müssen uns schon jetzt bei jeder Kollektion beschränken, so viele Ideen haben wir.“

Genug Ideen für weitere 20 Jahre? „Der Marke wünsche ich natürlich, dass sie weiterwächst, mit unserer bewährten Mischung aus Mut und Vorsicht.“ Für sich selbst möchte sie dann aber nicht über zwei ganze Jahrzehnte hinweg planen. Dafür habe sie auch zu viele Wünsche jenseits ihres Labels. Einer davon: ländlicher wohnen. Manchmal verspüre sie eine „Berlin-Müdigkeit“, dann wieder inspiriere sie die Hauptstadt. Sollte es jemals zum Abschied von der Stadt kommen, wird es ganz gewiss Blumen geben. Nicht nur gestrickte.

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