Wie schreibt Viveca Sten ihre Krimi-Bestseller? | ABC-Z
Die Kälte, die Viveca Sten in ihren Polarkreis-Krimis beschreibt, hält man für literarische Übertreibung, bis man in Åre aus dem Bus steigt. Die Straßen liegen unter einer dicken Eisschicht. Bei minus dreizehn Grad treibt ein scharfer Wind Schneeflocken über das kleine Örtchen, das sich hier an die Hänge des 1400 Meter hohen Åreskutan schmiegt. Seit gut einem Jahrhundert ist die Gegend um Östersund beliebt bei Skifahrern. Die selbst abends beleuchteten Pisten sieht man aus den großen Fenstern von Stens Chalet, in dem sie zum Abendessen lädt. Während ihr Mann das Rentierragout abschmeckt, erzählt Sten vom Zufall, mit dem ihre neue Krimireihe hier begann.
Eigentlich hatte die schwedische Bestsellerautorin nicht vor, einen ihrer Romane in der Kälte spielen zu lassen. Sie hatte das Haus in Åre mit ihrem Mann im Dezember 2019 bezogen, um Weihnachten und einen längeren Skiurlaub hier zu verbringen. „Mein Plan war, Anfang 2020 drei Monate auf Lesereise unterwegs zu sein. Dann kam die Corona-Pandemie, und wir blieben einfach in Åre“, erzählt die zierliche Fünfundsechzigjährige in hervorragendem Deutsch – als Tochter einer schwedischen Juristenfamilie hat sie als Studentin längere Zeit in der Schweiz verbracht.
„Was wenn eine Leiche im Lift säße?“
Da die Skilifte während der Pandemie in Betrieb blieben, fuhr sie täglich mit ihrem Mann die Berge hinab. Und eines Morgens kam ihr am Lift die Idee für einen Mord: „Ich sah am Einstiegsplatz die Gondeln langsamer und langsamer werden. Und stellte mir plötzlich vor, was wohl passieren würde, wenn in einer eine Leiche säße, ohne Kleider, mit schneeweißer Haut und Haaren. Ich sah es deutlich vor mir.“ Statt wieder in den Lift zu steigen, eilte sie zurück ins Haus und begann zu schreiben.
„Kalt und still“, ihr erster Roman mit der Stockholmer Polizistin Hanna Ahlander, beginnt mit der Szene der erfrorenen Toten im Skilift und der Ankunft der jungen Ermittlerin im Bergdorf. Ahlander ist vor privaten Problemen in das Ferienhaus ihrer Schwester geflohen. Als sie erfährt, dass im Ort ein Mädchen vermisst wird, bietet sie der lokalen, notorisch unterbesetzten Polizei ihre Hilfe an.
Zunächst arbeitete Sten nur für sich an dem Buch, sagte weder ihrem Mann noch ihrem Verlag etwas vom neuen Projekt. „Ich war ja bekannt als die Autorin, die über die Schären schreibt, was, wenn die Geschichte aus den Bergen keinen Anklang findet?“, dachte sie und fügte der Geschichte um Hanna Ahlander dennoch täglich neue Seiten hinzu. Dass der Ort, an dem sie Zeit verbringt, sie beim Schreiben inspirierte, war schon bei ihrem ersten Kriminalroman „Tödlicher Mittsommer“ der Fall gewesen, der auf den Schären-Inseln Sandhamn vor Stockholm spielte, die Sten seit ihrer Kindheit im Sommer besuchte. „Ich schreibe von meinen Lieblingsplätzen und versuche, die Leser in diese andere Welt einzuladen“, sagt sie.
Bevor 2008 ihr Krimidebüt erschien, hatte Sten zwanzig Jahre die juristische Abteilung der schwedischen Post geleitet und Jura-Fachbücher publiziert. „Die waren sehr langweilig“, sagt Sten. „Ich wollte irgendwann wissen, ob ich in der Lage bin, etwas Spannenderes zu schreiben.“ Der erste Roman war schnell weltweit erfolgreich. Sten gab ihren Beruf bei der Post auf, nahm die Disziplin der Juristin jedoch mit und schrieb fast jährlich ein neues Buch. Das schwedische Fernsehen und auch das ZDF fragten die Rechte für Verfilmungen an. In mehr als vierzig Ländern sind Stens Romane mittlerweile erschienen, fast neun Millionen Bücher hat sie verkauft. Und ihre Befürchtung, die Leser könnten nur an Morden in sommerlicher Inselidylle interessiert sein, bewahrheitete sich nicht. Auch Morde in düsterer Schneelandschaft haben ihren Reiz, die Polarkreis-Krimis landen regelmäßig auf der Bestsellerliste.
Verbotene Liebe im schwedischen Winter
Es mag die Mischung von exotischen Orten und sympathischen Ermittlerfiguren sein, die dafür sorgt. „Ich liebe meine Charaktere, sie sind wie Freunde“, sagt die Autorin und verrät auch, dass es ein Elizabeth-George-Krimi war, der sie mit Mitte dreißig für das Genre begeisterte: „Eine Freundin hatte ihn mir geschenkt und damit eine Tür in eine völlig neue Welt aufgestoßen.“ Wie bei George auch, steht in Stens Romanen nicht immer die Plotentwicklung im Vordergrund, sondern die Frage, wie das Zwischenmenschliche sich entwickelt. Seit Beginn der Polarkreis-Reihe bahnen sich Gefühle zwischen Hanna Ahlander und ihrem Kollegen Daniel an, der aber verheiratet und gerade Vater geworden ist. Verbotene Liebe im Polizeidienst, Herzschmerz gegen die Dunkelheit des schwedischen Winters. Auch den Nebenfiguren gönnt Sten Privatleben. Ahlanders Kollege Anton etwa tut sich schwer, im Bergort zu seiner homosexuellen Beziehung zu stehen. Sten bezeichnet ihn als einen Lieblingscharakter, hat für dessen Ausarbeitung Facharbeiten über Schwule in Schwedens Polizeidienst gelesen.
Nicht minder reizvoll ist die Leichtigkeit, mit der Sten aktuelle gesellschaftliche Themen in die Handlung verwebt. In „Kalt und still“ erzählt ein Nebenstrang vom Schicksal einer Putzfrau, die von Menschenhändlern ausgebeutet wird. Das zweite Buch, „Tief im Schatten“, dreht sich um Gewalt in der Ehe und religiösen Fanatismus. Und der gerade auch auf Deutsch erschienene dritte Band „Blutbuße“ behandelt Grundstücksspekulationen: Eine Immobilienentwicklerin wird ermordet. Ahlander findet heraus, dass sie ein verlassenes Hotel in lukrativer Lage gegen den Widerstand der Anwohner in ein Luxusresort umgestalten wollte. Geht Sten die Handlung von solchen Themen aus an? „Ich bin nicht wie Henning Mankell“, sagt Sten und lächelt. „Er findet ein Thema und schreibt dann das Buch darüber. Ich mache es umgekehrt, ich will einen guten Krimi schreiben, und dann schleicht sich das Thema hinein, und ich beginne meine Recherche dazu.“
Viveca Sten: „Blutbuße“. Ein Fall für Hanna Ahlander. Ein Polarkreis-Krimi. Aus dem Schwedischen von Dagmar Lendt. dtv Verlag, München 2024. 544 S., geb., 22.– €.