Wie Moskau britische Diplomaten bloßstellt | ABC-Z
In Russland ist es eine völkerrechtlich fragwürdige, aber etablierte Praxis, Diplomaten missliebiger Staaten namentlich bloßzustellen und sie bei Treffen oder Alltagshandlungen zu filmen. Jetzt ist dies sechs Mitarbeitern der britischen Botschaft in Moskau widerfahren.
Am Freitagmorgen teilte zunächst der Geheimdienst FSB mit, dass den Diplomaten die Akkreditierung entzogen worden sei, was ihre Ausweisung bedeutet. Zum einen begründete der FSB dies mit „Antwortmaßnahmen auf zahlreiche unfreundliche Schritte Londons“. Welche, blieb offen.
Am Mittag teilte das britische Außenministerium mit, die Akkreditierungen seien den Diplomaten schon im August entzogen worden, nachdem London gegen russische „Aktivitäten“ in Europa und im Vereinigten Königreich vorgegangen sei.
Laut der Zeitung „The Guardian“ geht es darum, dass die Londoner Polizei vor einigen Monaten eine Gruppe Briten beschuldigt habe, für den russischen Staat einen Brandanschlag auf mit der Ukraine verbundene Unternehmen geplant zu haben. Demnach wäre die Ausweisung eine Vergeltung.
Indem Moskau aber bis Freitagmorgen wartete, um die Nachricht publik zu machen, drängte sich ein anderer Anlass auf: Laut „Guardian“ hat London entschieden, der Ukraine zu erlauben, die britischen Storm-Shadow-Marschflugkörper mit einer Reichweite von mindestens 250 Kilometern gegen Ziele auch auf russischem Staatsgebiet einzusetzen. Eigentlich hatte David Cameron, Außenminister der früheren britischen Regierung, schon Anfang Mai gesagt, die Ukraine habe „das Recht“, mit den Waffen Ziele in Russland anzugreifen. Dennoch geht es jetzt wieder um dieselbe Frage.
Putin: NATO-Länder beteiligen sich direkt am Ukrainekrieg
Just am Freitag wollte der neue Premierminister Keir Starmer mit dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden im Weißen Haus über die Frage sprechen, ob auch Washington nach den amerikanischen HIMARS-Raketen mit einer Reichweite von rund 80 Kilometern im Frühsommer nun Kiew auch erlaubt, die ATACMS-Raketen für solche Angriffe zu verwenden, die bis zu 300 Kilometer entfernte Ziele treffen sollen. In Moskau rechnet man damit, dass die Entscheidung zugunsten Kiews schon gefallen sei. Präsident Wladimir Putins Machtapparat reagiert darauf mit der Bekräftigung der 2022 eingeschlagenen Linie, man müsse sich gegen einen „kollektiven Westen“ wehren.
So äußerte sich Putins Sprecher Mitte der Woche, so äußerte sich Putin selbst am Donnerstagabend. Wie zuvor Ende Mai, sagte er, die Ukrainer könnten die westlichen Präzisionswaffen nicht selbst auf russische Ziele lenken, sondern benötigten dazu Daten „von NATO-Satelliten“ sowie Soldaten des Bündnisses. Anfang Juni hatte Putin geäußert, westliche Berater und Ausbilder seien schon in der Ukraine und „erleiden, für sie bedauerlicherweise, Verluste“.
Jetzt fuhr Putin fort, wenn es der Westen „dem Kiewer Regime“ erlaube, Waffen „mit großer Reichweite“ gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet einzusetzen, bedeute das, dass „NATO-Länder, die Vereinigten Staaten, europäische Länder, direkt am Krieg in der Ukraine beteiligt sind“. Das ändere „das Wesen, die Natur des Konflikts selbst“ und bedeute, dass diese Länder „gegen Russland kämpfen“. Nach innen wiederholte Putin damit die Erzählung vom Verteidigungsringen; nach außen wirkte der Auftritt vor seinem Leibreporter wie ein neuer Versuch, westliche Eskalationsängste zu schüren.
Doch abermals ließ Putin offen, wie er auf die erwartete Entscheidung reagieren werde: „Wir werden Entscheidungen treffen, die den Bedrohungen entsprechen, die man uns schaffen wird“, sagte er. Das erinnerte daran, dass Putin auf frühere Überschreitungen vermeintlicher „roter Linien“ den Krieg weder, wie von manchem befürchtet, mit Angriffen auf NATO-Länder, noch nuklear eskaliert hatte.
Moskau missachtet Wiener Übereinkommen
Über die Diplomaten führte der FSB weiter aus, „in ihren Handlungen Anzeichen der Durchführung geheimdienstlich-zersetzerischer Arbeit gefunden“ zu haben. Auch habe man „Dokumente“ erhalten, die zeigten, dass die Osteuropa- und Zentralasien-Abteilung des britischen Außenministeriums „nach Beginn der SWO in der Ukraine zu einem Geheimdienst umgebildet worden ist, dessen wesentliche Aufgabe es ist, unserem Land strategischen Schaden zuzufügen“, hieß es. Das Kürzel stand dabei für „spezielle Militäroperation“, den Krieg.
In der Meldung fehlten noch Namen und Bilder der Briten, was mit Blick auf das Völkerrecht geboten sein sollte: „Die Person des Diplomaten ist unverletzlich“, heißt es im Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen. „Der Empfangsstaat“, Russland also, „behandelt ihn mit gebührender Achtung und trifft alle geeigneten Maßnahmen, um jeden Angriff auf seine Person, seine Freiheit oder seine Würde zu verhindern.“ Doch kaum war die Ausweisung vermeldet, nannte der Staatssender Rossija 24 in einem Viereinhalb-Minuten-Beitrag alle Diplomaten mit Namen, zeigte Fotos der vier Männer und zwei Frauen sowie Videobilder, die offenbar im Rahmen der Überwachung westlicher Diplomaten in Russland entstanden sind.
Dazu sagte ein angeblicher FSB-Mitarbeiter in Rückenansicht und mit tief verzerrter Stimme, die sechs hätten „klassische britische Spionage“ betrieben und man sei es leid, sie zu beobachten, quer durch Moskau, durch Parks und in Nachbarstädte zu verfolgen. Als das „Dokument“ entpuppte sich ein Organigramm der Ministeriumsabteilung; die „Spionage“ sollten gefilmte Treffen mit Journalisten und Vertretern der Zivilgesellschaft wie den Menschenrechtsschützern von Memorial sein, laut dem FSB-Mann „ausländischen Agenten, welche die Interessen von Migranten lobbyieren“.
Der Beitrag skandalisierte, dass eine Diplomatin zum Prozess gegen Oleg Orlow gekommen war; der Leiter des Memorial-Rechtsschutzzentrums wurde zu einer Haftstrafe verurteilt, kam aber im Gefangenenaustausch vom 1. August nach Deutschland.
Das Wiener Übereinkommen zählt zu den Aufgaben einer Botschaft, „sich mit allen rechtmäßigen Mitteln über Verhältnisse und Entwicklungen im Empfangsstaat zu unterrichten und darüber an die Regierung des Entsendestaats zu berichten“. So ist es für westliche Diplomaten üblich, Vertreter der Zivilgesellschaft zu treffen, neben offiziellen Kontakten, die in Moskau indes im Krieg weggebrochen sind.
Schon Anfang 2021 hatte Russland aber Diplomaten aus Deutschland, Polen und Schweden zu Personae non gratae erklärt und im Staatsfernsehen vorgeführt, unter dem Vorwurf, an Demonstrationen für den Oppositionsführer Alexej Nawalnyj teilgenommen zu haben.
Die Bilder, die damals wie heute Überwachungskameras und Beschatter lieferten, zeigten freilich nur, wie die drei das Geschehen beobachteten, was zu ihrem Aufgabenbereich gehört. Auch der neue Vorfall, indem London die Vorwürfe gegen seine Diplomaten als unbegründet zurückwies, wirkt wie ein Ventil russischen Unmuts. Er dürfte es westlichen Ländern weiter erschweren, Diplomaten für Moskau zu gewinnen, besonders solche mit Familie: „London schickt Geheimdienstler als Ehepartner von Diplomaten“, sagt der FSB-Mann im Fernsehen zu Bildern, die Briten zeigen sollen, die durch Moskau schlendern und ein Kind im Buggy schieben. „Als Tarnung von Spionageaktionen benutzen sie kleine Kinder.“