Wie man ohne Stress durch die Weihnachtszeit kommt | ABC-Z
Weihnachten ist das Fest der Kindheit. Zumindest scheint das so, wenn man Erwachsene fragt, was sie am ehesten mit dem Fest verbinden. „Diese Erinnerung an unendlich lange Tage, die man am liebsten inmitten seiner neuen Geschenke im Pyjama vertrödelt hat“, lautet eine Antwort. „Die Aufregung an Heiligabend, kurz bevor die Bescherung begann“, eine andere. Der Gang zur Kirche durch tiefen Schnee, den es zumindest der Erinnerung nach (und wahrscheinlich nur dort) jedes Jahr verlässlich gab. Die Familie, die mit Großeltern, Tanten und Onkel am Tisch beisammensaß. Und keiner schimpfte, wenn spät abends immer noch das Licht im Zimmer brannte, weil jeder wusste, dass man am nächsten Tag und auch die Tage drauf einfach ausschlafen konnte.
Doch von alledem, was wohl am ehesten mit dem großen Wort „Besinnlichkeit“ zu beschreiben wäre, ist kaum etwas übrig geblieben. Wenn man dieselben Erwachsenen, die von Weihnachten in ihrer Kindheit schwärmen, nämlich weiter fragt, was sie heute mit dem Fest verbinden, antworten sie: Stress. Und zwar in einem Ausmaß wie niemals sonst im Jahr.
Von einem Termin zum nächsten
Die Menschen, so scheint es, hetzen durch den Advent. Freunde wollen sich unbedingt im Dezember noch einmal treffen, als würde es kein nächstes Jahr mehr geben. Berufliche Termine werden noch in die letzten Lücken des Dezembers hineingepresst. Eltern berichten von einem Marathon, der schon im November beginnt. Vom Laternenumzug geht es nahtlos über zur ersten Weihnachtsfeier der Saison. Erst im Kindergarten, dann in der Schule, schließlich im Sportverein. Weiter zum Krippenspiel. Dann zum Weihnachtsbasar und auf den Weihnachtsmarkt. Und schließlich zum besinnlichen Adventskaffee.
Der Dezember ist außerdem der Monat, in dem das Mobiltelefon noch mehr strapaziert wird als sonst. Kaum hat man eine Stunde nicht aufs Handy geschaut: 28 verpasste Nachrichten. Von der Mutter („Ein lieber Gruß!“). Der Schwester („Sehen wir uns an Weihnachten?“). Schließlich den Nachbarn („Bei uns wurde im Keller eingebrochen!!!“). Aus dem Whatsapp-Klassenchat („Was schenken wir der Lehrerin?“). Dann wieder die Freunde („Treffen wir uns in diesem Jahr noch mal?“). Man ertappt sich dabei, wie die eigenen Nachrichten immer weniger werden. Man schreibt nicht mehr, reagiert nur noch. Daumen hoch. Smiley. Herzchen. Wahlweise entzückt oder entsetzt dreinschauendes Emoticon. Am Ende ist der Fünfminutenkaffee im Büro die einzige ruhige Minute, die bleibt.
Warum ist das so? Haben wir Weihnachten verlernt? Ist es nicht der Sinn der Weihnachtszeit, sich einmal im Jahr zurückzunehmen und sich auf das zu konzentrieren, was als „wesentlich“ bezeichnet wird? Sich gerade dann Zeit zu nehmen für die Familie, die Freunde? Menschen, die einem nahestehen? Gerade in dieser Zeit seine Gedanken zu ordnen: was wichtig ist, was drängt. Aber auch: was hintangestellt werden kann. Das Leben ist hochtourig genug. Und die Ereignisse des Jahres, ob nun die politische Lage, die Kriege, die finanzielle Situation des Landes, haben nicht dazu beigetragen, das Leben gedanklich zu entschleunigen. Warum gelingt es dann nicht wenigstens im Kleinen? Dort, wo es jeder für sich unter Kontrolle hat?
Zu hohe Ansprüche
Die Wahrheit ist: Viele Menschen machen sich den Stress selbst – in ihrem Anspruch, in allem nicht nur gut, sondern perfekt sein zu wollen. Und weil es gerade an Weihnachten nicht gelingen mag, sich einzugestehen, dass man manchmal an seinen eigenen Ansprüchen scheitern kann. Wir wollen an jeden denken, niemanden benachteiligen. Wir wollen für alles eine Lösung finden und das möglichst schnell. Es gibt Mütter, die sich grämen, weil sie es nicht schaffen, extra noch Plätzchen zu backen für das Weihnachtsklassenfest – nur um festzustellen, dass andere längst erkannt haben, dass es gekaufte Lebkuchen ebenso tun. Ehemänner, die sich halb wahnsinnig machen, weil sie Sorge haben, das Geschenk für die Gattin könne für Unfrieden sorgen unter dem Weihnachtsbaum. Wir neigen dazu, niemanden vor den Kopf stoßen zu wollen, indem wir Einladungen ablehnen, wohl wissend, dass wir, während wir in geselliger Runde am Glühwein nippen, ohnehin mit den Gedanken ganz woanders sind. Soll das ein gesegnetes Weihnachtsfest sein?
Was bliebe, wäre die Flucht. Was, zugegeben, in den weihnachtlich ausstaffierten Großstädten ein schwieriges Unterfangen ist. Wo würde man landen? Ein Kollege berichtete kürzlich, er habe den Nachmittag in der Alten Nikolaikirche am Römerberg verbracht. Ein wundervoller Ort. Sobald sich die schwere Kirchentür geschlossen habe, sei nichts mehr zu hören gewesen von dem Trubel des Weihnachtsmarkts. Drinnen herrschte Ruhe. Ein Cello-Quartett spielte Weihnachtslieder. Das sei er gewesen, einer dieser Momente der Besinnlichkeit.
Andere finden die Ruhe bei der Arbeit
Oder man findet die Ruhe in einem Café. Ein Vater von zwei Söhnen hatte sich vor wenigen Tagen eine solche Auszeit gegönnt. Am Abend zuvor hat er den letzen Haken hinter seine To-do-Liste gesetzt. Die Liste las sich folgendermaßen: das neue Kinderfahrrad zusammenbauen. Noch schnell ein biometrisches Passfoto von seinem Kleinsten machen lassen für den Reisepass. Geschenke besorgen für die Hockey- und Rugbytrainer der Jungs. Ein Rezept vom Kinderarzt abholen für die Ergotherapie. Rechnungen schreiben, weil das steuerlich sonst „nervig“ wird. Und schließlich: Weihnachtsbriefe schreiben an die Eltern, den Bruder, die Ehefrau. Eine Familientradition. Dieser Vater also saß an jenem Nachmittag in einem kleinen Café im Frankfurter Westend mit der Zeitung in der Hand. Versunken. Entrückt. Später berichtete er, das sei seine Form der Besinnlichkeit.
Andere finden die Ruhe bei der Arbeit. Unter den Kollegen. In Gesprächen. Bei gemeinsamen Mittagessen, bei dem noch letzte Geschenketipps ausgetauscht werden. Oder in Momenten wie diesen, in denen eine liebgewonnene Kollegin vorbeikommt und eine Probe ihrer weihnachtlichen Chai-Tee-Lieblingsmischung bringt. Das ist einfach nur schön.
Und nicht zuletzt findet man die Besinnlichkeit zu Hause. Wo sonst? Und zwar dann, wenn das Telefon tatsächlich einmal beiseitegelegt wird. Wenn ein altes Brettspiel hervorgekramt wird, das seit Ewigkeiten verstaubt im Schrank lagerte. Wenn man sich ans Klavier setzt und Weihnachtslieder spielt. So lange, bis die Finger wieder wie von selbst über die Tasten fliegen. Es werden alte Filme geschaut, deren Dialoge man fast mitsprechen kann. Es wird die immer gleiche Weihnachts-CD gespielt, nur dass sie inzwischen gestreamt wird, was die 90 Jahre alte Großmutter aufhorchen lässt („Wo kommt die Musik jetzt her?“). Auch das ist „Runterkommen“ in einer Zeit, in der die politischen Ereignisse so schnell aufeinanderfolgen, dass mancher meint, er komme kaum noch hinterher mit den Krisen dieser Welt.
Und je näher das Weihnachtsfest rückt, desto mehr Ruhe kommt auf. Desto mehr verschwindet die Hektik, der Ärger, die Verzweiflung, dass manchmal nicht alles so läuft, wie es soll. Eine letzte Anekdote von einer Mutter, die wenige Tage vor Weihnachten noch dem Krippenspiel ihrer Tochter zugeschaut hat. Das Mädchen spielt einen Engel. Und niemand im Publikum ahnt, dass die weiße Strumpfhose, die das Mädchen trägt, erst kurz vor dem Auftritt in allergrößter Eile noch schnell im nächstbesten Laden gekauft worden ist. Das ist Weihnachten. Was ist schon perfekt? Nichts. Und das ist ein großes Glück.