Wie kocht man mit nur einer Zutat pro Teller? | ABC-Z

Hochgestellte Buchstaben als Anhängsel der Gerichte in einer Speisekarte: Seit der verpflichtenden Allergenkennzeichnung ist das nichts Neues. Was aber soll SB bedeuten? Oder OB? Diese Kürzel wird man wohl nur in einem Lokal finden: dem Brutalisten in Stockholms Innenstadt. Dieses Restaurant markiert die Gänge seines Menüs mit den Begriffen orthodox brutalistisch, brutalistisch oder semibrutalistisch. Denn was hier aus der Küche kommt, wird von einem Manifest des deutschen Künstlers Carsten Höller bestimmt, der das Lokal vor drei Jahren, im April 2022, eröffnete. Höllers mitunter raumgreifende und oft interaktive Installationen waren in Museen wie der Tate Modern in London oder auf Messen wie der Art Basel zu erleben, er wird von der renommierten New Yorker Galerie Gagosian vertreten.
Mit dem dreizehnteiligen „Brutalist Kitchen Manifesto“, das auch auf der Menükarte zu lesen ist, legt der Künstler die simplen, übersichtlichen Formen der brutalistischen Architektur auf die Küche um; Carsten Höller ist ein Anhänger dieser Bauweise, die jüngst durch das Architekturdrama „Der Brutalist“ mit dem Oscar-prämierten Adrien Brody in der Hauptrolle in den Fokus gerückt ist.
Der wichtigste Punkt im Manifest lautet: Erlaubt ist eine Zutat pro Teller. Für orthodox brutalistische Gerichte (mit OB gekennzeichnet) ist nicht einmal die Zugabe von Wasser und Salz erlaubt, heißt es im Manifest; für einen brutalistischen Teller (B) ist der Einsatz dieser beiden für das Kochen so essenziellen Zutaten indes gestattet. Und bei semibrutalistisch (SB) sind auch Hilfsmittel wie Butter, Öl und Zucker zugelassen, außerdem dürfen verschiedene Arten einer Zutat kombiniert werden. Ein Beispiel dafür ist ein Happen aus getrockneten gelben Erbsen: ein Küchlein aus dem Mehl der Erbsen, inspiriert von der südfranzösischen Socca, als Füllung eine Creme aus fermentierten gelben Erbsen, außerdem kommen ein Pulver aus getrockneten Erbsensprossen dazu, sowie frische Erbsensprossen.
Der Teller muss reinsortig bleiben
Dem Menschen, meint Carsten Höller, sei die brutalistische Ernährung angeboren – Muttermilch sei dem Wesen nach brutalistisch. Was das Manifest noch besagt: Die eine erlaubte Hauptzutat pro Teller darf durch verschiedenste Kochmethoden variiert werden, für ein Gericht darf man sie in roher ebenso wie in erhitzter Form einsetzen. Wichtig ist, dass die Teller reinsortig bleiben, um einen Begriff aus der Weinsprache zu verwenden. Und: „Dekoration ist zu vermeiden.“
Höllers Manifest schränkt das Küchenteam unter der Leitung von Coen Dieleman erst einmal denkbar stark ein. „Niemand von uns wurde ausgebildet, nach solchen Regeln zu kochen“, sagt eine Köchin, „wir hatten immer alles zur Verfügung – Zitronensaft, Gewürze, Käse, alles – wir mussten nicht nachdenken, was erlaubt ist und was nicht.“ Das enge Regelkorsett regt dafür aber die Kreativität enorm an: Wenn für ein Gericht nur eine einzige Zutat erlaubt ist, muss man zum einen all ihren Teilen Beachtung schenken, also nach der Nose-to-tail-Philosophie vorgehen. Und man ist gezwungen, die ganze Palette an Zubereitungsarten auszunützen, muss eine Zutat „deklinieren“, wie es der einflussreiche Molekularkoch Ferran Adrià einst genannt hat.
Ein erstaunlich reiner Gaumen ist das Ziel
Es gilt, das Augenmerk noch stärker als gewohnt auf Faktoren wie Zeit, Hitze, Kälte, diverse Zerkleinerungsformen und mikrobiotische Veränderungen zu richten, um den Produkten möglichst vielfältige Seiten zu entlocken. Für einen Karottendrink etwa werden frischer und fermentierter Karottensaft kombiniert, der Glasrand wird mit einem salzig-säuerlichen Pulver aus getrockneten fermentierten Karotten eingerieben. Nachdem beim Fermentieren, genauer gesagt der milchsauren Vergärung, Salz zum Einsatz kam, ist das Getränk nicht orthodox brutalistisch, sondern „nur“ brutalistisch. (Den Karottenbrand des österreichischen Schnapsbrenners Hans Reisetbauer – für einen Liter braucht es mindestens 35 Kilogramm Karotten – kannte das Brutalisten-Team übrigens nicht; er wäre noch eine erlaubte Zugabe für diesen Drink.)
Zum Einläuten des Menüs wird auf einem Tellerchen ein einzelnes winziges Blütenköpfchen serviert. Unschuldig gelb, einer Kamillenblüte ähnlich, liegt es da, nach Manifest-Maßstäben orthodox. Was die Blüte am Gaumen für eine Wirkung hat, ist ihr nicht anzusehen, der Name Electric Daisy weist allerdings in die richtige Richtung: Ähnlich wie Szechuanpfeffer, nur deutlich intensiver, erzeugt sie im Mund ein prickelndes Minifeuerwerk. Und hinterlässt nach Abebben des Schauspiels einen erstaunlich reinen Gaumen – genau das ist das Ziel.
Das Menü des Michelinstern-Restaurants enthält außerdem Gänge wie Kabeljau Pil-Pil: Nach baskischem Vorbild werden der collagenreiche pure Sud des Kabeljaus und der pürierte Kopfinhalt zu einer cremigen Sauce emulgiert, mit etwas Butter als Hilfsmittel – semibrutalistisch. Der Gang „Fischauktion“ versammelt mehrere Tellerchen, die jeweils reinsortig gehalten sind, darunter Sashimi sowie Jakobsmuscheln in einer Sauce aus dem aufgeschlagenen Corail, dem Rogen. Ein Kartoffelgang aus der Sorte Amandine setzt sich aus geräuchertem Püree, knuspriger Schale, einem fermentierten Chip und dem reduzierten Kartoffelkochwasser zusammen – brutalistisch.
Zucker ist nicht explizit erlaubt
Dem Regelwerk des Manifests fügt das Küchenteam selbst noch Einschränkungen hinzu: Die Zutaten sollen so weit wie möglich aus Schweden stammen oder, wo das nicht möglich ist, aus Norwegen oder Dänemark. Anderswo dehnt man den Rahmen des Erlaubten aus, nützt „Gesetzeslücken“ und schleust gewissermaßen Zutaten ein, oder man legt die Regel „eine Zutat pro Teller“ kreativ aus: Für ein Dessert aus Buchweizen gestatten sich die Köche auch den Einsatz von Koji-Sporen, um das Getreide zu einem Miso zu fermentieren, und setzen zudem Buchweizenhonig ein: „Da hat der Mensch nichts hinzugefügt. Den machen die Bienen aus Buchweizen. Wir nennen das einen Twist des Dogmas.“

Gerade in der Patisserie sei es schwierig, heißt es aus der Küche. Anders als Salz ist Zucker nicht explizit erlaubt. Mit der natürlichen Fruchtsüße von spät geerntetem Obst lässt sich das etwas abfangen, oder man fügt eben ein wenig Zucker hinzu. So auch bei einem Dessert aus Ei und karamellisiertem Hühnerfond – das Huhn definiert man in diesem Fall übrigens als Überbegriff auch für das Ei, so kann man beides als eine einheitliche Zutat für den Teller sehen.

Als Gast ertappt man sich dabei, wie man selbst beginnt, das Regelwerk nach Schlupflöchern zu durchforsten. Ist Öl, das nur zum Frittieren verwendet wird, eine Zutat oder vielleicht eher ein Werkzeug, das eben die Außenseite von etwas knusprig macht? Oder wie würde eine streng orthodox brutalistische Weinkarte aussehen? Da wären wohl nur reinsortige Weine eines Jahrgangs erlaubt, idealerweise mit Lagenbeschränkung, bei Champagner etwa ein Vintage Blanc de Blanc Grand Cru. Schon jetzt gilt für achtzig Prozent der von Sommelière Roxane Kermarc verantworteten Auswahl: „eine Rebsorte pro Flasche“. Kermarc schreibt auch die Rebsorten auf die Karte – das ist etwa bei Barolo, der immer aus der Traube Nebbiolo gemacht wird, nicht üblich.

Carsten Höller ist während des Menüs nicht nur mit seinem Manifest präsent. Für die Tische hat er kleine weiße Leuchtskulpturen gestaltet: drei unterschiedliche Stadien eines Fliegenpilzes in einem. Ein Verweis auf die Küche des Lokals Brutalisten – eine Zutat, aber verschiedene Erscheinungsformen. Höllers Faible für Pilze ist bekannt. In der Fondazione Prada in Mailand hängte er riesige Fliegenpilze von der Decke, die Art Basel in Paris zeigte die Skulptur „Giant Triple Mushroom“, einen Hybrid aus drei Pilzen, auf der Place Vendôme. Als Begleitprogramm dieses Gastspiels gab es im Herbst 2024 ein Pop-up des Brutalisten in Paris.
Eingang auf das Menü in Stockholm hat indes Carsten Höllers Werk „Kinderkotze“ aus den frühen Neunzigerjahren gefunden, das zuletzt in der Kunsthalle Nürnberg nach seiner Anleitung realisiert wurde: auf Wand und Boden geschüttete Tomatensauce mit darin verteilten Buchstabennudeln, aber nur die Buchstaben M und A. In der Küche des Brutalisten wird daraus ein Kürbisgericht. Ausgestochene Kürbisbuchstaben formen den Schriftzug MAMA.