Wie Gabriele Tergit das Palästina der 1930er-Jahre erlebte | ABC-Z
Berlin. Die Schriftstellerin stand dem Leben im Nahen Osten skeptisch gegenüber. Das Buch „Im Schnellzug“ nach Haifa versammelt ihre Eindrücke.
Israel ist eines der meistdiskutierten Themen dieser Tage. Und eines der am kritischsten diskutierten. Das wäre an sich nicht schlecht, würde sich die Kritik auf konkrete Handlungen der israelischen Regierung und ihres Chefs Benjamin Netanjahu beziehen, darauf – um nur ein verheerendes Beispiel zu nennen –, dass der Ministerpräsident keinen Friedensplan für den bereits seit so langer Zeit schwelenden Konflikt im Nahen Osten vorlegt und wahrscheinlich gar nicht an einer Befriedung interessiert ist, schon gar nicht an einer Zwei-Staaten-Lösung. Aber Kritik wird leider meist nicht an den politisch Verantwortlichen und deren Handlungen geübt, sondern am Staat Israel im Ganzen und nicht selten schwingt dabei die Sichtweise mit, dass dieser – „From the River to the Sea“, wie es die Hamas-Terroristen und ihre fanatischen Sympathisanten fordern – abgeschafft gehöre.
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Einer vergleichbaren Haltung sieht sich kein zweites Land ausgesetzt und sie ist, und das nicht nur aus deutscher, sondern universell humanistischer Perspektive, schlicht untragbar. Tatsächlich zeichnet sich ein Großteil der hier in Deutschland von Pro-Palästina-Demonstranten sowie Verfechtern ideologisch verfärbter postkolonialistischer Standpunkte geäußerten „Kritik“ durch Unkenntnis und Halbwissen aus, etwa wenn es um die ignorante Vorstellung geht, beim Zionismus – und mithin bei der Staatsgründung Israels – handele es sich um ein kolonialistisches Projekt (im Sinne einer jüdischen Eroberungspolitik). Wer sich eingehender mit der Geschichte der Region beschäftigt, die sich von der deutschen nun einmal nicht trennen lässt, ist schnell klüger.
Kritische Stimmen, deren Einwände und Warnungen von fundierten Kenntnissen und Beobachtungen zeugen und eine entsprechende Berechtigung haben, gab es dabei von jeher zuhauf – und die größten Kritiker stammten oft aus Israel selbst oder lebten zeitweise vor Ort. Eine Zeitzeugin, die 1933 alles andere als freiwillig ins damalige Palästina reiste und dem Zionismus gegenüber sehr skeptisch eingestellt war, war die Berliner Schriftstellerin Gabriele Tergit (1894-1982), die als kritisch-politische Journalistin mehr noch denn als Jüdin früh ins Visier der Nazis geriet. Unter anderem für das Berliner Tageblatt, jenes linksliberale Leitmedium der Weimarer Republik, schrieb sie legendäre Gerichtsreportagen („Vom Frühling und von der Einsamkeit“), in denen sie sich die völkische Bewegung und Hitler, der sich vor dem Kriminalgericht Moabit einer Anklage zu stellen hatte, vorknöpfte, und landete ganz oben auf der Schwarzen Liste.
Gabriele Tergit fürchtete das Klima und die Lebensweise
In der Nacht vom 4. auf den 5. März 1933 stand ein Sturmtrupp der SA vor ihrer Tür, angeblich mit einem Haftbefehl von Hermann Göring persönlich, doch Tergit gelang es mithilfe der Berliner Polizei, die Verhaftung abzuwehren. Sie beschloss, Deutschland zu verlassen und floh zunächst nach Tschechien, wo sie an ihrem großen Epochenroman „Effingers“ arbeitete. Ihr Mann, der Architekt Heinz Reifenberg, war – da sich die antisemitische Stimmung in Berlin zuspitzte – einer Einladung seines Bruders nach Palästina, seinerzeit britisches Mandatsgebiet, gefolgt, das für Juden als sicher galt. Tergit, die das Klima und die Lebensweise „in einem orientalischen Land“ fürchtete, in dem es keine Kultur und „nicht einmal ein anständiges Restaurant“ gab, wie sie später feststellen musste, folgte ihm nach längerem Zögern im November 1933 mit dem Schiff nach Jaffa oder Haifa, genau weiß man es nicht, und blieb bis 1938.
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Aus diesen Jahren stammen zahlreiche kleine Porträts, die nun in einer Auswahl in dem von ihrer Biografin Nicole Henneberg herausgegebenen Band „Im Schnellzug nach Haifa“ vorliegen. Tergit zeichnet in diesen in weiten Teilen erstmals veröffentlichten Texten nichts Geringeres als ein plastisch-sinnliches Panorama des winzigen Landstrichs lange vor der Staatsgründung und insbesondere seiner unterschiedlichen Bewohner, seien dies Revolutionäre aus Galizien, Jüdinnen aus Petersburg, Polen oder dem Baltikum, Zionistinnen aus Berlin, Fabrikanten, Kutscher, Fleischer, Schlosser oder Dienstmädchen.
Was sie im Nahen Osten vorfand, war eine bunte Vielfalt aus Arabern und Juden, die aus Deutschland, vor allem aber aus Osteuropa und Russland vor den dortigen Pogromen geflohen waren, aus (von ihr lebendig geschilderten) archaischen Ritualen, aus biblischer Geschichte und Moderne. Nicht zuletzt erlebte sie ein Land im Aufbau, das überwiegend aus Wüste und weiten Sumpfgebiete bestand. Der Boden, der vielfach von jüdischen Organisationen käuflich erworben worden war, wurde erst urbar gemacht – Kolonialisierung, wenn man den Begriff denn benutzen will, also in Form von Kultivierung, nicht von Unterwerfung. Im Gegenteil, der Zionismus stand in keinem Widerspruch zu einer friedlichen Koexistenz, für diese plädierte auch Theodor Herzl („Der Judenstaat“), der „Vater des modernen Zionismus“, auf den Tergit ebenfalls zu sprechen kommt, wohingegen der Großmufti von Jerusalem, der Hitler bewunderte und mit ihm verbündet war, aber auch andere muslimische Fanatiker zur Gewalt aufriefen.
Gabriele Tergit: Im Schnellzug nach Haifa. Schöffling, 256 Seiten, 28 Euro.
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Als mondäne Großstädterin, aufgeklärte Intellektuelle und assimilierte Jüdin, der viele Facetten des traditionellen Judentums gar nicht bekannt gewesen waren, muss sie sich zwangsläufig wie ein Fremdkörper inmitten der vielen bäuerlichen Pioniere empfunden haben, die braungebrannt und schwitzend auf dem Feld arbeiteten – und ein neues Hebräisch sprachen. Namentlich in den Kibbuzim sollte das Modell einer sozial gerechten Gesellschaft, die auf Gleichheit, Teilen und Solidarität basiert, Einzug erhalten. In ihrem jüngst erschienenen Buch „Deutschland und Israel nach dem 7. Oktober“ fordert die israelische Historikerin Fania Oz-Salzberger, die Tochter des Schriftstellers und Friedensaktivisten Amos Oz, eine Rückbesinnung auf diese Ideale und die Idee einer Zwei-Staaten-Lösung.
Gabriele Tergit, die eine Ahnung von der Komplexität der Lage hatte und diese in ihren Porträts anschaulich vermittelt, hätte ihr wohl beigepflichtet.